Anthro-Goetheanismus

Anthro-Goetheanismus: Goetheanismus nur für Anthroposophen?

Anmerkungen zu einem aktuellen Artikel von Wolfgang Schad

 

In der anthroposophischen Monatsschrift Die Drei erschien von Mai bis Juli 2002 ein Aufsatz des wohl renommiertesten goetheanistischen Naturwissenschaftlers, Wolfgang Schad, mit dem Titel “Was ist Goetheanismus?”. Schad nimmt zwar keinen Bezug auf meinen gleichnamigen Webartikel, aber er gibt doch Anlaß zu einer Stellungnahme, indem er das scheinbar gleiche Thema in einer vollkommen anderen Weise behandelt. Besonders bemerkenswert finde ich, was Schad als ein führender Vertreter des real existierenden Goetheanismus bei seiner Darstellung wegläßt und somit offenbar nicht zum Goetheanismus rechnet.

Schad befaßt sich in seinem Aufsatz zunächst mit “Wortgeschichte”: Wer verwendete das Wort “Goetheanismus” erstmals (ein gewisser Karl Gustav Brinkmann 1803 in einem Brief an Goethe), und wann griff Steiner es erstmals auf (1884)? Danach wendet er sich den unter Anthroposophen mitunter als “frühe Goetheanisten” bezeichneten Zeitgenossen Goethes zu: den romantischen Naturphilosophen, mit denen Goethe allzu oft in einen Topf geworfen wird. Dieses Mißverständnis auszuräumen, mag sinnvoll sein, bevor man sich endlich der Frage zuwendet, was berechtigterweise unter “Goetheanismus” verstanden werden kann.

Nachdem ich selber lange damit gerungen habe, wie diese Frage anzugehen ist, verblüfft es mich, welchen ganz anderen Weg nun Schad einschlägt: Von der Abgrenzung Goethes gegenüber den Naturphilosophen springt er zu Steiner, der seine Anthroposophie einmal (1909) in ganz ähnlicher Weise von der Theosophie abgrenzte. Und dann verknüpft Schad die Frage “Was ist Goetheanismus?” mit der Frage “Was ist Anthroposophie?”, womit auch impliziert ist, was beide miteinander zu tun haben und was sie unterscheidet. Sicher ein interessanter Fragenkomplex. Dabei droht jedoch eine erhebliche Einengung der Ausgangsfrage, wenn nämlich Goetheanismus nur noch in seinem Verhältnis zur Anthroposophie betrachtet wird.

Im zweiten Teil seines Aufsatzes (Juni-Heft der Drei) behandelt Schad den so aufgeworfenen Fragenkomplex, indem er die Ergebnisse einer Recherche zusammenfaßt, bei der gefragt wurde, in welchem Zusammenhang Steiner das Wort “Goetheanismus” verwendete. Auf diese Weise wird die drohende Einengung der Ausgangsfrage manifest. Denn das Wort Goetheanismus taucht in den relativ frühen Schriften Steiners nicht auf, in denen er sich ausführlich mit Goethe und mit dem, was er selber später Goetheanismus nannte, auseinandersetzte. Alle in diesem Zusammenhang von Schad angeführten Fundstellen stammen aus einer Zeit (1912 und danach) und aus Vorträgen, in denen Steiner entweder zu Anthroposophen sprach oder vor anderem Publikum die Anthroposophie vertrat. Bei solchen Gelegenheiten gebrauchte Steiner offenbar gut hundert mal das Wort “Goetheanismus”. Eine vergleichende Betrachtung dieser Textstellen mag geeignet sein, das Verhältnis von Anthroposophie und Goetheanismus nach der Auffassung Steiners zu dokumentieren (ich komme darauf zurück). Aber zu der weiter gefaßten Frage “Was ist Goetheanismus?” kann diese Betrachtung nur eine sehr spezielle Facette beitragen, weil sie die grundlegenden Werke Steiners zu diesem Thema (1883 bis 1897) komplett außer acht läßt.

Dabei steht außer Frage, daß Schad diese früheren Werke Steiners sehr wohl kennt. Es handelt sich also nicht um eine dilettantische Recherche eines Ahnungslosen, sondern um ein bewußtes Weglassen. Und das hat eine sehr gewichtige Konsequenz. Denn die weggelassenen Werke Steiners sind nicht nur das weitaus Meiste, was Steiner über “Goetheanismus” schrieb (ohne damals - mit einer von Schad angeführten Ausnahme - schon dieses Wort zu verwenden). Es handelt sich dabei auch just um die Werke Steiners, in denen er die “Goethesche Weltanschauung” behandelte und daran anknüpfend seine eigene “Philosophie der Freiheit” entwickelte, bevor es eine Anthroposophie gab und bevor Steiner zum Repräsentanten dieser Anthroposophie geworden war. In dieser Zeit wendete sich Steiner noch an ein allgemein-menschliches Publikum, während die von Schad berücksichtigten Fundstellen (mit der einen - in die Einleitung verbannten - Ausnahme) nur Vorträge für Anthroposophen oder Anthroposophie-Interessierte betreffen.

Eine derart einseitige Quellen-Auswahl wäre halbwegs vertretbar, wenn Schad als Titel etwa “Goetheanismus und Anthroposophie” oder “Goetheanismus aus anthroposophischer Sicht” gewählt hätte. Das tat er aber nicht einmal beim Untertitel für den hier zur Rede stehenden zweiten Teil: “Der Goetheanismus in den Darstellungen Rudolf Steiners”. Schad beansprucht offensichtlich, den Goetheanismus überhaupt zu behandeln - erst wortgeschichtlich und dann geistesgeschichtlich mit Blick auf die Romantiker und auf Steiner. Bei der Geistesgeschichte sollte es aber nicht mehr auf Worte ankommen, sondern auf Inhalte, die auf ganz verschiedene Weise in Worte gekleidet werden können.

Es bleibt also ein Rätsel, warum Schad in seinem ersten ausführlichen Bekenntnis zu dem, was er seit Jahrzehnten als “Goetheanist” vertritt, zwar bei jeder Gelegenheit auf Steiner Bezug nimmt, aber die diesbezüglichen Grundwerke Steiners nicht berücksichtigt. Die einzige Andeutung einer Erklärung sehe ich im wortgeschichtlichen Teil seiner Ausführungen. Da erläutert Schad vollkommen zutreffend, daß nach dem allgemeinen Sprachgebrauch das Adjektiv “goethesch” sich speziell darauf bezieht, was die Person Goethe vollbracht hat, während “goetheanistisch” eine überpersönliche Ausrichtung mehrerer oder vieler Gleichgesinnter bezeichnen sollte, für die das goethesche Werk nur ein prägnantes Beispiel lieferte. Das weiß jeder, der sich ein wenig für derartige linguistische Feinheiten interessiert. Was also soll diese Belehrung? Soll sie begründen, warum u.a. Steiners “Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung” (1886) anschließend komplett ignoriert wird? Das wäre ein sehr billiger Trick, aber eine andere Erklärung ist mir nicht ersichtlich.

Goetheanismus kann sehr wohl ganz unabhängig von der Anthroposophie vertreten werden. Das hat namentlich Henri Bortoft in seinem Buch “Goethes naturwissenschaftliche Methode” (1995) versucht. Dieses Buch ignoriert Schad aber ebenso wie die entsprechenden Werke Steiners. Auch hier könnte man als formale Begründung anführen, daß Bortoft das Wort “Goetheanismus” nicht verwendet, sondern stattdessen immer von “Goethes Methode” spricht. Entscheidend ist aber, daß er nicht nur beschreibt, was Goethe gemacht hat, sondern (wie zuvor schon Steiner) die dabei zutage tretende Methode erläutert und erkenntnistheoretisch zu begründen versucht. Diese Methode ist nicht auf Goethe selbst beschränkt, sondern kann im Prinzip von jedermann eigenständig vollzogen werden. Und genau darum - also um Goetheanismus - geht es Bortoft. Als Beispiel dafür, daß auch Andere schon Goethes Methode erfolgreich anwendeten (also Goetheanismus betrieben), wählte er übrigens ein Buch von Schad.

Ein unabhängig von der Anthroposophie entwickelter und präsentierter Goetheanismus kann (oder könnte) für sehr viele Menschen interessant und wertvoll sein, die mit Esoterik (wie z.B. Anthroposophie) gar nichts am Hut haben oder die jedenfalls mit guten Gründen ablehnen, was ihnen unter der Bezeichnung “Anthroposophie” entgegentritt. Für solche Menschen schrieb Steiner Bücher wie seine “Philosophie der Freiheit” (1894) oder “Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung” (1886), die er um 1920 herum weitgehend unverändert neu auflegen ließ. Mit diesen Neuauflagen und explizit in den bei dieser Gelegenheit verfaßten neuen Vorworten machte Steiner deutlich, daß er auch gegen Ende seines Lebens neben seinem Projekt “Anthroposophie” weiterhin einen davon unabhängigen Goetheanismus sinnvoll und wichtig fand. Heute wäre es durchaus möglich, einen solchen eigenständigen Goetheanismus etwa in Anknüpfung an Thomas S. Kuhn und Paul Feyerabend auch wissenschaftstheoretisch zu begründen. Und er würde auf wesentlich mehr Resonanz stoßen, als es zu Steiners Zeit möglich war, - wenn er von der Bürde befreit wäre, immer sogleich auch Anthroposophisches mit zu transportieren und deshalb nur akzeptiert werden zu können, wo auch Anthroposophie akzeptiert wird.

Für solch einen “unbelasteten”, eigenständigen Goetheanismus läßt Schads Darstellung - wo sie sich auf Steiner beruft - fast keinen Spielraum. Gewiß wird man nicht um Steiner herumkommen, wenn man darstellen will, was Goetheanismus ist. Dann wird man aber redlicherweise auch nicht von Steiners philosophischen Schriften absehen können, in denen dieser sich mit Goethe auseinandersetzte und dabei - ganz im Sinne von Schads linguistischer Belehrung - einen “Ismus” entwickelte. Inwiefern sich das, was Steiner in diesen früheren Werken ausarbeitete, mit dem deckt oder auch nicht deckt, was er später bei zahlreichen Gelegenheiten “Goetheanismus” nannte, wäre zu prüfen. So hätte Schad dem ambitionierten Thema “Der Goetheanismus in den Darstellungen Rudolf Steiners” gerecht werden können.

Aber auch die von Schad spezieller gefaßte Frage, wie nach Steiners Darstellungen Goetheanismus und Anthroposophie zusammenhängen, ist nicht adäquat zu beantworten, wenn man nur das anthroposophische Vortragswerk berücksichtigt und die “goetheanistischen” Bücher Steiners ignoriert. Insbesondere die Vorreden und Zusätze Steiners anläßlich der Neuauflagen 1918 bzw. 1923 wären hierzu aufschlußreich. Schads Darstellung erweckt durch die Gewichtung der Zitate wie auch durch eigene Zusätze stark den Eindruck, als habe Steiner einen Goetheanismus ohne Anthroposophie als nicht mehr zeitgemäß betrachtet. Wie wäre dann aber zu verstehen, daß Steiner z.B. seine “Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...” nach fast vierzig Jahren erneut herausbrachte und dabei hinzufügte: “Was ich vor Zeiten als Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung in diesem Schriftchen skizziert habe, scheint mir heute so nötig zu sagen wie vor vierzig Jahren.” Und: “Ich würde, schriebe ich sie heute, manches anders sagen. Aber ich würde als Wesen der Erkenntnis nichts anderes angeben können.”

Zieht man noch den Zeitpunkt in Betracht, wann Steiner diese Zeilen schrieb (November 1923), dann kann man auf eine weitere Problematik aufmerksam werden, die Schad völlig außer acht läßt. Zu dieser Zeit betrachtete Steiner sein Projekt “Anthroposophie” als praktisch gescheitert. Für Dezember plante er einen vollständigen Neuanfang, der jedoch dadurch vereitelt wurde, daß Steiner erkrankte und schließlich starb. Was heute als “Anthroposophie” existiert, ist daher keineswegs mit dem gleichzusetzen, was Steiner in seinen Vorträgen mit diesem Wort meinte (vgl. Was ist Anthroposophie?). Insofern er seine eigene Geistesforschung meinte - und das war sehr oft der Fall -, handelt es sich um etwas, was heute nicht mehr existiert, weil Steiner tot ist und niemand diese Forschung fortsetzte. Mit Anthroposophie in diesem Sinn kann Goetheanismus also nicht in Verbindung gebracht werden, so lange niemand eine eigenständige geistige Forschung beiträgt.

Versteht man dagegen unter “Anthroposophie” eine zur Kenntnis zu nehmende Lehre - wie Schad es an verschiedenen Stellen explizit tut -, dann wird sie inkompatibel zu dem, was Steiner u.a. in seinen “Grundlinien” als goetheanistisches Erkennen beschrieb. Steiner stellte in seinen frühen Werken ganz das erkennende Individuum in den Mittelpunkt, das sich nicht über irgendwelche “Wahrheiten” belehren läßt, sondern allein dem vertraut, was es selbst wahrnimmt und einsieht. Einen so verstandenen Goetheanismus mit anthroposophischen Lehrinhalten zu verknüpfen, wäre - wie ich schon andernorts schrieb - ein Etikettenschwindel. Genau das ist allerdings durchaus übliche Praxis unter sogenannten Goetheanisten. Schads Aufsatz liest sich über weite Strecken (besonders im zweiten Teil) wie eine Rechtfertigung dieser Praxis, die allerdings nur dadurch scheinbar gelingt, daß er einerseits grundlegende Werke Steiners ignoriert und andererseits einen ganz unklaren Begriff von “Anthroposophie” verwendet.

Erst im dritten Teil seines Aufsatzes (“Der Goetheanismus seit Rudolf Steiner”, Juli-Heft der Drei) erwähnt Schad Steiners vor-anthroposophische Schriften kurz, ohne allerdings auf deren Inhalt einzugehen. Die Werke, in denen Steiner - an Goethe anknüpfend - seine Erkenntnistheorie entwickelte, werden bei Schad nur insofern gewürdigt, als sie “erstmals den Naturwissenschaftler Goethe in seinem methodischen Ansatz in breiten Kreisen sichtbar gemacht [...] haben”. Schad zählt dann eine ganze Reihe von nicht-anthroposophischen Naturwissenschaftlern auf, die im 20. Jahrhundert bei ihrer Arbeit an Goethe anschlossen und insofern eine Art Goetheanismus trieben, ohne ihn aber so zu nennen. Steiners “historische Leistung” (Schad) wird in diesem Zusammenhang darauf reduziert, auf Goethe als Naturwissenschaftler aufmerksam gemacht zu haben.

Das ist insofern berechtigt, als die aufgezählten Wissenschaftler sich später nur auf Goethe, nicht aber auf Steiner beriefen. Steiners erkenntnistheoretische Grundlegung eines Goetheanismus wurde in diesen Kreisen nicht angenommen. Merkwürdigerweise geht Schad darauf aber überhaupt nicht ein. Er ignoriert eben diesen inhaltlichen Beitrag Steiners konsequent. So kann die interessante Frage, warum dieser inhaltliche Beitrag auch außerhalb anthroposophischer Kreise nicht zur Kenntnis genommen wurde, gar nicht erst aufkommen. Und die Teil-Antwort auf diese Frage, daß gerade die Verknüpfung mit der Anthroposophie, die Schad so sehr in den Vordergrund stellt, den Goetheanismus für viele Menschen inakzeptabel macht, fällt unter den Tisch.

Schad schließt mit den Worten: “der Goetheanismus wird sich nicht für die nächsten tausend Jahre entwickeln können ohne die Wirksamkeit der Anthroposophie”. Ich meine, daß die Wirksamkeit dessen, was heute überwiegend unter dem Namen “Anthroposophie” auftritt, schon heute die Entwicklung eines Goetheanismus massiv behindert, weil beides so eng miteinander verstrickt ist. Dazu gehört u.a. die Haltung, Goetheanismus als eine Angelegenheit der Anthroposophen zu betrachten und den Rest der Menschheit von einer Mitwirkung auszuschließen. Die Frage, ob vielleicht in einigen Jahrhunderten Goetheanismus nicht mehr ohne so etwas auskommen können wird, was Steiners Anthroposophie hätte werden können, - diese Frage wird sich möglicherweise nie wirklich stellen, wenn die Anhänger Steiners (“Anthroposophen”) das, was sich heute “Goetheanismus” nennt, weiter so eifersüchtig vom Rest der Welt fernhalten.

Letzte Änderung auf dieser Seite (Link hinzugefügt): 17. 9. 2004

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