Anthroposophische Medizin

Zur Problematik der Forschung in der Anthroposophischen Medizin

 

Hier kommentiere ich einen Webartikel mit gleichlautendem Titel auf der Website der Medizinischen Sektion am Goetheanum. Als langjähriger Patient anthroposophischer Ärzte und als ehemaliger “Forscher” im Bereich der Anthroposophischen Medizin begrüße ich es ausdrücklich, dass nun an so offizieller Stelle eine “Problematik” der betreffenden Forschung gesehen und angesprochen wird. Allerdings finde ich den Lösungsvorschlag gar nicht befriedigend, und die gesamte Darstellung verharmlost nach meiner Einschätzung die Problematik in unverantwortlicher Weise.

Der Artikel (dessen Autor nicht genannt wird) beginnt folgendermaßen (Zitate im Folgenden immer kursiv):

Nichtkonventionelle Therapierichtungen wie die anthroposophische Medizin oder die Homöopathie mit einer über 70-jährigen bzw. 200-jährigen Tradition sind davon gekennzeichnet, daß sie überwiegend von praktizierenden Ärzten in der Grundversorgung angewendet werden. Diesen geben die täglichen Praxiserfahrungen und die steigende Zahl zufriedener Patienten die Gewißheit, daß ihre Therapie mit großer Wahrscheinlichkeit wirksam und nebenwirkungsarm ist.

Das ist aus der Sicht eines kritischen (und oft enttäuschten) Patienten wie auch aus der Sicht eines ordentlich ausgebildeten Wissenschaftlers im allerbesten Fall eine sehr kühne Behauptung. Zugleich handelt es sich aber um eine leider völlig zutreffende Formulierung der grandiosen Selbstüberschätzung anthroposophischer Ärzte, um deren Rechtfertigung sich der Autor im Weiteren bemüht.

Wer als Patient einige Erfahrungen mit der ärztlichen Praxis gemacht hat - egal ob im konventionellen oder in irgend einem alternativen Sektor -, der wird nur noch sehr begrenzt für möglich halten, dass auch die Ärzte tatsächlich Erfahrungen machen, was die Wirksamkeit ihrer Verordnungen betrifft. Wird ein Patient gesund, dann kommt er nicht wieder. Ob die Maßnahmen des Arztes zur Gesundung beigetragen haben oder ob diese spontan erfolgte, bleibt ungeklärt. Gesundet der Patient innerhalb einer gewissen Zeit nicht, dann wird der Patient wohl den Arzt wechseln. Auch das erfährt der in diesem Fall erfolglose erste Arzt normalerweise nicht.

Die “tägliche Praxiserfahrung” ist deshalb wenig bis fast nichts wert. Einer der Haupt-Gründe, warum wir neben der ärztlichen Praxis dringend auch Forschung brauchen. Und wie steht es um die “steigende Zahl zufriedener Patienten”? Die kann viele Gründe haben. Als globale Bestätigung der Wirksamkeit anthroposophischer Medizin überhaupt kann sie gewiss nicht ernsthaft herangezogen werden. Wo die Zahl tatsächlich steigt, handelt es sich erst einmal um eine rein statistische Feststellung, die kaum irgendwelche Aussagen über eine Kausalität rechtfertigt. Und wo die Zahl sinkt, da wird der Mantel des Schweigens darüber gehängt.

Was im obigen Zitat besonders befremdet, ist aber die Formulierung, derartige Erfahrungen gäben dem Arzt die “Gewissheit”, dass seine Therapie “mit großer Wahrscheinlichkeit wirksam” sei. Welchen Sinn macht das Wort “Gewissheit”, wenn es eigentlich nur um Wahrscheinlichkeiten geht? Und welchen Sinn macht so eine globale Aussage, wenn es gar nicht möglich ist, die zahlreichen Verordnungen, die der Arzt in der täglichen Praxis vornimmt, je für sich zu bewerten?

Als ergänzendes Argument wird angeführt:

Eine unwirksame und gefährliche Behandlungsmethode begrenzt sich im Laufe der Jahre selbst durch Mangel an Patienten.

Was soll denn das besagen? Ist die “anthroposophische Methode” denn grenzenlos erfolgreich? Oder will der Autor unterstellen, dass sie unbegrenzt erfolgreich wäre, wenn da nicht die “Gegner” wären?

Tatsächlich ist die Anthroposophische Medizin in der Praxis bisher so begrenzt erfolgreich, dass man durchaus für möglich halten muss, dass die meisten ihrer spezifischen Mittel wenig bis gar nicht wirken.

Weiter im Text:

Die Forderung nach Forschungsstudien im Bereich der anthroposophischen Medizin und Homöopathie wurde relevant, nachdem diese Behandlungsmethoden in die EU-Gesetzgebung integriert wurden.

Erst durch Gesetze auf der Ebene der EU wurde also nach dieser Ansicht die Frage relevant, ob man im Bereich der Anthroposophischen Medizin auch Forschung brauche. Die Anthro-Mediziner selber haben ein solches Bedürfnis nicht oder kaum entwickelt, und auf nationaler Ebene konnte man immer wieder durch erfolgreiche Lobby-Arbeit einen Sonderstatus gegenüber der konventionellen Medizin erreichen.

Der nicht mehr abweisbaren Forderung von Seiten der Gesetzgeber wird nun durch das Argument begegnet, dass die in der Schulmedizin übliche Methodik nicht ohne weiteres auf die Anthrosophische Medizin übertragbar sei. Die Schulmedizin kann bei den meisten verordneten Medikamenten nicht genau angeben, warum sie wirken. Man stützt sich deshalb auf klinische Studien, in denen die Wirksamkeit statistisch abgesichert und möglichst genau spezifiert wird, wobei parallel unerwünschte Nebenwirkungen ebenfalls erfasst werden sollten.

Als Argument gegen diese “in der Schulmedizin übliche Methodik” wird eingewendet, dass tatsächlich nur ein geringer Teil der in der konventionellen Praxis angewendeten Verfahren entsprechend wissenschaftlich geprüpft sei. Was stimmt denn nun: Ist die randomisierte Doppelblind-Studie “üblich”, oder ist sie die Ausnahme?

Der unbekannte Autor bricht nun jedenfalls eine Lanze für die “Erfahrung des klinischen Praktikers”:

Es gilt nun, Methoden zu entwickeln, dieses ärztliche Urteil zu schärfen und zu objektivieren.

Woraus wohl zu entnehmen ist, dass diese Methoden nach Ansicht des Autors bislang noch nicht ausreichend entwickelt sind. (Dies wird weiter unten noch deutlicher.)

Wie läßt sich ein therapeutischer Ursache-Wirkung-Zusammenhang - ein therapeutischer Kausalzusammenhang - sicher erkennen?

Zum Zwecke dieser „sichere Erkenntnis“ bemüht sich die konventionelle Methodologie um einen möglichst hohen Grad der Subjekt-Ausgrenzung.

Dem ist hinzuzufügen, dass es gute Gründe für diese Bemühung gibt. Die “konventionelle Methodologie” sieht ganz richtig erhebliche Probleme bei der subjekt-zentrierten “Erkenntnis”, die hier propagiert wird. Das fehlbare Subjekt möglichst weitgehend auszuschalten, war eine mögliche Antwort darauf, und Karl Popper hat sie zu Ende gedacht.

Ein völlig anderer methodologischer Ansatz herrscht in der auf Anthroposophie begründeten anthroposophischen Medizin. Die zentralen Fragestellungen lauten hier: Wie kann das Erkenntnisvermögen des individuellen Menschen zu besserer Orientierung gelangen, und mit welchen Methoden können seine Erkenntniskraft und -reichweite gesteigert werden?

Das erinnert zunächst an die “immanente” Erkenntnistheorie Rudolf Steiners, die dieser auch als methodische Grundlage seiner Anthroposophie bezeichnete. Der Autor des Webartikels geht jedoch weiter:

Dieser Zielsetzung angemessen muß auch eine entsprechende Methodologie der Wirksamkeitsbeurteilung entwickelt werden. Die methodologische Schlüsselfrage für die anthroposophische Medizin lautet deshalb: Wie läßt sich ein therapeutischer Kausalzusammenhang am Einzelfall erkennen? Wie läßt sich die Wirksamkeit einer Behandlung am einzelnen Patienten beurteilen?

Unter Berufung auf die Gestaltpsychologie des frühen 20. Jahrhunderts behaupet der Autor, eine solche “kausale Einzelfallbeurteilung” sei möglich und erlernbar. Und er fordert, dass sie “in Zukunft” gleichberechtigt neben der konventionellen medizinischen Forschung stehen müsse. Nicht um die bisherige Praxis in der seit 70 Jahren bestehenden Anthroposophischen Medizin geht es also, sondern um ein im wesentlichen noch zukünftiges Projekt:

Es muß die Methodik der individuellen Wirksamkeitsbeurteilung noch weiter ausgebaut und dann auch von den Ärzten und Therapeuten zunehmend erlernt und praktiziert werden ...

Die tatsächliche Problematik der bisherigen “Forschung” im Bereich der Anthroposophischen Medizin fällt so praktisch unter den Tisch.

Wie kommt das “anthroposophische Menschenbild” zustande, das dieser Richtung der Komplementärmedizin zugrunde liegt? In welchem Verhältnis stehen die zahlreichen Darstellungen dieses Menschenbildes zueinander? Wie kann geprüft werden (wenn überhaupt), welche Darstellung, welches Detail “richtig” oder “falsch” ist? Wie weit reicht das Belieben des einzelnen Arztes, Dozenten, Forschers oder Autors bei der Ausgestaltung seines Menschenbildes?

Worauf gründet sich weiter das “Wissen” anthroposophischer Ärzte über Krankheiten? Gibt es im anthroposophischen Bereich eine eigene Forschung über die diversen Krankheiten, und wenn ja: Wie wird diese Forschung betrieben und in welchem Verhältnis steht sie zur konventionellen medizinischen Forschung?

Wie findet die Anthroposophische Medizin ihre spezifischen Heilmittel? Gibt es eine eigene Ratio der Heilmittelfindung in der Anthroposophischen Medizin, oder anders gefragt: In welchem Verhältnis stehen die diversen Entwürfe einer solchen Ratio zu der tatsächlichen ärztlichen Praxis? Und gibt es umgekehrt auch praktizierte Verfahren, um nicht wirksame “Heilmittel” als solche zu identifizieren?

Es mag verständlich sein, dass derartige Fragen in der Web-Präsenz des Goetheanums ausgespart bleiben. Aber man sucht eine solche selbst-kritische Auseinandersetzung in der gesamten anthroposophisch-medizinischen Literatur nahezu erfolglos, und ich habe als Autor in diesem Bereich selbst erlebt, welche Abneigung gegen jede Art der Überprüfung des “Wissens” dort lebt.

So sehr die Anthroposophische Medizin sich selbst als eine besonders menschenfreundliche Heilweise sehen und propagieren mag, ist sie in ihrer sozialen Wirklichkeit doch (auch) ein Interessenkartell derjenigen Menschen und Institutionen, die davon leben, diese Heilweise möglichst erfolgreich zu verkaufen. Und vielleicht ist es sogar im Interesse der meisten Patienten dieser Therapierichtung, wenn alle Beteiligten möglichst unreflektiert an die Wirksamkeit der Therapie glauben. Darauf basiert jedenfalls der Placebo-Effekt an sich wirkungsloser Medikamente.

 

Einige konstruktiv-kritische Artikel zu den Grundlagen der Anthroposophischen Medizin finden sich im Archiv.

Copyright  Klaus Frisch 2004

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