Goethes Auseinandersetzung mit Newton Hier möchte ich Goethes Auseinandersetzung mit Newtons Opticks kurz darstellen. Das kann einerseits dazu dienen, Goethes Herangehensweise an die Welt der Farben im Kontrast zu der weitgehend vertrauten Vorgehensweise Newtons zu charakterisieren. Darüber hinaus möchte ich aber auch zeigen, daß es sich hierbei nicht um einen bloß historisch interessanten Streit handelt, sondern um eine auch heute noch hoch relevante grundsätzliche Frage. Durch Isaac Newton (1643-1727) wurde die Anschauung “selbstverständlich”, daß das Sonnenlicht aus verschiedenen Farben zusammengesetzt sei. Sie gehört seither zur Allgemeinbildung. Außerdem denkt man das Licht aus kleinsten Teilchen zusammengesetzt, die heute Photonen genannt werden. Auch dieser Gedanke geht maßgeblich auf Newton zurück. Streng genommen sind diese Vorstellungen heute längst nicht mehr haltbar. Nach den Erkenntnissen der Quantenphysik besteht das Licht nicht aus Teilchen, sondern es ist etwas Einheitliches, Ganzheitliches (mathematisch beschreibbar als “Wellenfunktion”), das erst aufgrund eines experimentellen Eingriffs teilchenartig erscheinen kann. Damit hat die neuere Forschung Goethes Kritik an Newtons Opticks in einem wesentlichen Punkt bestätigt. Denn ein Hauptvorwurf Goethes gegenüber Newtons Vorgehensweise war, daß dieser “Hypothesen an die Spitze gesetzt” habe, womit vor allem die Annahme des Zusammengesetztseins des Lichts gemeint war. Newton selbst hatte das allerdings keineswegs als Hypothese betrachtet, wie schon die ersten Sätze seiner Opticks (nach dem Vorwort) zeigen: "Es ist nicht meine Absicht, in diesem Buche die Eigenschaften des Lichts durch Hypothesen zu erklären, sondern nur, sie anzugeben und durch Rechnung und Experiment zu bestätigen. Dazu will ich folgende Definitionen und Axiome vorausschicken. (...) 1. Definition. Unter Lichtstrahlen verstehe ich die kleinsten Teilchen des Lichts, und zwar sowohl nacheinander in den selben Linien als gleichzeitig in verschiedenen. Denn es ist klar, daß das Licht sowohl aus sukzessiven wie aus gleichzeitigen Teilchen besteht (...)." (Übersetzung von W. Abendroth, 1898.) Wer heute quasi mit dieser Vorstellung aufwächst, dem mag das “klar” erscheinen. Und so war es auch für Goethes Zeitgenossen. Das macht verständlich, warum praktisch niemand Goethes Widerspruch folgen konnte. Aber dabei handelt es sich (damals wie heute) nur um zeitbedingte Denkgewohnheiten. Als Newton seine Lichtlehre entwickelte (spätes 17. Jahrhundert), war es unter Fachleuten keineswegs “klar”, daß Licht aus Teilchen bestehe. Schon René Descartes (1596-1650) hatte neben der Teilchen-Vorstellung auch die Auffassung vertreten, das Licht sei eigentlich eine Art Schwingung oder Welle. Und entschiedene Vertreter dieser Wellen-Hypothese waren Newtons Zeitgenossen Christiaan Huygens (1629-1695) und Robert Hooke (1635-1703). Auch Newton selbst formulierte 1675 eine entsprechende Vibrations-Hypothese, worüber es sogar zu einem Prioritätsstreit mit Hooke kam. Später entschied er sich allerdings für die Teilchen-Hypothese. Zu einem fairen Disput darüber kam es jedoch nie. Newton scheute die Auseinandersetzung. Mit der Veröffentlichung seiner Opticks wartete er, bis Huygens und Hooke gestorben waren (1704), und die alternative Denkmöglichkeit der Lichtwelle verbannte er an das Ende des dritten und letzten Bandes: zu den “unrichtigen” Hypothesen. So gelang es Sir Isaac Newton, seine Sicht der Dinge für ein ganzes Jahrhundert unangefochten zu etablieren. Goethes Farbenlehre (1810) fällt in eine Zeit, in der dieses Gebäude zu bröckeln begann. Durch die Arbeiten von Thomas Young (1773-1829) und Augustin Jean Fresnel (1788-1827) wurde die Teilchen-Hypothese als unhaltbar verworfen und schließlich an ihrer Stelle die Wellen-Hypothese inthronisiert. In diesem Streit war Goethe - wenn wir nur die Wirkung betrachten, die sein Betrag damals hatte, - ein unbedeutender Außenseiter. Er verwarf sowohl die Lehre Newtons als auch die alternative Wellen-Hypothese Fresnels, weil beide von bestimmten Annahmen darüber ausgingen, was das Licht sei. Aber gerade das macht Goethes Position heute so relevant. Denn wir können heute wissen (wenn wir die unbequemen Resultate der Quantenphysiker im 20. Jahrhundert zur Kenntnis nehmen), daß sowohl die Teilchen- als auch die Wellenhypothese, je für sich genommen, nicht aufrechterhalten werden kann. Keine von beiden “paßt” wirklich für das Licht. Je nach dem, was man dem Licht an experimenteller Vorrichtung entgegen bringt, eignet sich mal das eine, mal das andere Modell zur Beschreibung dessen, was passiert. Aber das Licht selbst ist damit nicht erfaßt. Goethe ließ einfach offen, was das Licht sei. Er untersuchte empirisch, was passiert, wenn Licht bestimmten Bedingungen ausgesetzt wird. Und von vornherein stellte er in seinen Betrachtungen dem Licht die “Finsternis” gegenüber. Denn wenn Licht von vornherein als etwas, die Dunkelheit oder Finsternis dagegen als nichts gedacht wird, handelt es sich ja wiederum um ein Vorurteil. Die Konsequenzen dieses anderen Ansatzes sind im Vergleich zu Newton erheblich. Für Newton ergab sich aufgrund seiner Vorannahmen folgendes Experiment als grundlegend: Er verdunkelte sein Zimmer, ließ durch ein kleines Loch im Fensterladen eine “geeignete Menge” Licht hereinfallen, leitete dieses durch ein gläsernes Prisma und betrachtete die an der gegenüberliegenden Wand auftretenden Farben. Bei geeigneter Anordnung von Loch, Prisma und Wand (und vielleicht noch weiterer Hilfsmittel) erhielt er so das bekannte Spektrum der Farben, aus denen er das Sonnenlicht zusammengesetzt dachte. Aus Goethes Sicht war dieses Experiment sehr einseitig, weil es Licht und Finsternis in ganz unterschiedlicher Weise behandelte. Für Goethe ergab sich das folgende Experiment als entsprechender Einstieg: Er verdunkelte das Zimmer nicht, und er stellte auch keine Versuchs-Anordnung vor sich hin, um eine bestimmte Erwartung experimentell zu bestätigen. Stattdessen blickte er in einem normal erhellten Raum selbst durch das Prisma - und machte gleich eine grundlegende Entdeckung: Beim Blick durch das Prisma erscheinen Farben an den Grenzen zwischen hellen und dunklen Flächen, und zwar entweder Rot und Gelb oder Blau und Violett. Goethe erhielt also kein Farbenspektrum, sondern zwei Arten farbiger Ränder an den Grenzen zwischen Hell und Dunkel. Newtons Spektrum kann bei dieser Art von Versuch sekundär erhalten werden, indem man durch eine geeignete Anordnung von Auge, Prisma und betrachteten Flächen zwei farbige Ränder so zur Überlappung bringt, daß zwischen Gelb und Blau das Grün erscheint. Ganz entsprechend kann man aber auch ein umgekehrtes Spektrum erhalten, in welchem zwischen Rot und Violett ein leuchtendes Rosa erscheint und dafür die Farbe Grün fehlt. (Diese Versuche sind sehr leicht durchzuführen. Man benötigt dazu nur ein Prisma.) So kam Goethe zu einer ganz anderen Anschauung über das Wesen der Farben als Newton: Farben sind nicht Bestandteile des Sonnenlichts, in welche dieses “zerlegt” werden kann, sondern sie entstehen aus einem Zusammenwirken von Licht und Finsternis. Das ist in seiner Farbenlehre ausführlich dargelegt. Ich erwähne hier nur noch als zweites Beispiel neben den prismatischen Farben die Entstehung der Farben des Himmels: Das Himmelsblau entsteht nach Goethe dadurch, daß wir den eigentlich schwarzen Hintergrund des Sternenhimmels durch das lichtdurchflutete und leicht trübe Medium der Luft betrachten. Umgekehrt entsteht die gelbe bis rote Farbe der auf- oder untergehenden Sonne dadurch, daß wir die eigentlich gleißend-helle Sonnenscheibe durch eine zunehmend dickere Schicht leicht getrübter Luft betrachten. In beiden Fällen vermittelt das Medium Luft eine Wechselwirkung von Licht und Finsternis, wie es in anderer Weise auch das Prisma tut. Wer die herkömmliche Erklärungsweise in der Physik gewohnt ist, hat es erfahrungsgemäß schwer, sich konsequent auf Goethes Denkweise einzulassen. Nach der üblichen Erklärung beruhen die Farben des Himmels und der Sonnenscheibe darauf, daß die verschiedenen Komponenten des Lichts beim Durchgang durch die Atmosphäre unterschiedlich stark gestreut werden, abhängig von ihrer Wellenlänge. Das ist eine in sich schlüssige Vorstellung, die auch mathematisch exakt formuliert und durchgerechnet werden kann. Eine solche Vorstellung mag in mancher Hinsicht praktisch sein, aber sie ist falsch, insofern man dabei das Licht als tatsächlich aus Farben mit bestimmten Wellenlängen zusammengesetzt denkt. Denn monochromatische Lichtstrahlen sind ebenso fiktiv wie als Partikel gedachte Photonen. Beides nützliche Modellvorstellungen, denen aber keine Wirklichkeit zukommt. Goethes Anschauungsweise verzichtet auf derartige Fiktionen. Sie beschränkt sich auf das, was wirklich in der Anschauung vorfindbar ist. Und sie lenkt das Augenmerk auf Gesetzmäßigkeiten innerhalb des Anschaulichen, welche ignoriert werden, wenn man wie sonst üblich gleich zu vermeintlich “wirklichen” Fiktionen springt. Im weiteren gelangte Goethe aufgrund seiner Experimente und Naturbeobachtungen auch zu einer qualitativen Ordnung der Farben, die in den physikalischen Modellvorstellungen nicht enthalten ist. Zum Beispiel ergibt sich aus den Versuchen mit dem Prisma und aus der Beobachtung der Sonne, daß Gelb, wie Goethe schreibt, “die nächste Farbe am Licht [ist]. Sie entsteht durch die gelindeste Mäßigung desselben”. Das läßt sich steigern, indem durch “Verdichtung und Verdunklung” das Gelb über Orange in Rot übergeht. An derartige Charakterisierungen können sich zwanglos Beobachtungen darüber anschließen, wie die verschiedenen Farben auf den Menschen wirken. Goethe faßte beides als “sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe” zusammen (sechste Abteilung der Farbenlehre). Auch darin liegt ein bedeutender Unterschied zu Newton, der (wie der mit ihm befreundete Philosoph John Locke) die Auffassung vertrat und ihr zu allgemeiner Geltung verhalf, daß derartige Qualitäten nur subjektiven Charakter haben. Als “wirklich” betrachtete Newton nur Quantitatives, geometrische Verhältnisse sowie die Mechanik, und alles andere wollte er auf diese drei zurückführen. Wiederum eine letztlich unbegründete Annahme Newtons, die den Status einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit erlangte und bis heute mächtig nachwirkt. Auf der anderen Seite kann es hochgradig naiv erscheinen, wenn Goethe die Farben so für wirklich nimmt, wie sie uns entgegentreten. Das kann erkenntnistheoretisch als ein Rückfall in die Zeit vor Locke und Newton, ja als geradezu “unwissenschaftlich” aufgefaßt werden. Woraus deutlich wird, daß der Goetheanismus, wenn er den Anspruch erhebt, als wissenschaftliche Richtung ernst genommen zu werden, einer erkenntnistheoretischen Grundlegung bedarf. Diesem Aspekt werde ich mich auf der nächsten Seite zuwenden.
Weiterführende Literatur zum Thema dieser Seite: Henri Bortoft: Goethes naturwissenschaftliche Methode (1995) Jos Verhulst: Der Glanz von Kopenhagen. Geistige Perspektiven der modernen Physik (1994)
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