Goethes Naturforschung

Goethes Naturforschung

Im Hauptberuf war Goethe erst Jurist, dann Politiker. Daneben dichtete er - und wurde dadurch weltberühmt. Wichtiger als das Dichten wurde ihm selbst aber bald ein anderes “Hobby”: die Naturforschung.

Diesem Hobby widmete er vor allem in späteren Jahren viel Zeit, und seine diesbezüglichen Interessen waren breit gefächert. Entsprechend umfangreich ist seine Hinterlassenschaft an naturwissenschaftlichen Schriften, von denen als die bedeutendsten Die Metamorphose der Pflanzen (1790) und Zur Farbenlehre (1810) zu nennen sind.

Link: Goethes naturwissenschaftliche Schriften online

Ob er sich nun mit Pflanzen, mit Mineralien, mit den Farben oder mit dem Wetter befaßte - immer war für Goethe die Frage nach der angemessenen Vorgehensweise des Forschers, nach der Methode, präsent. Er forschte also nicht einfach drauflos wie so viele begeisterte Hobby-Forscher, aber er betrieb seine Forschungen auch nicht wie ein erlerntes “Handwerk”, in dem der Fachmann “weiß, wie man fachgerecht vorgeht”, - und dabei so oft nur etablierten Traditionen folgt, ohne sich über deren Sinn oder Unsinn Gedanken zu machen.

An dieser methodischen Besonnenheit, nicht an bestimmten Ergebnissen Goethes, möchte der Goetheanismus anknüpfen. Das kann in der Weise geschehen, daß man gewisse von Goethe selbst entwickelte und dargestellte Vorgehensweisen übernimmt und als Tradition “pflegt”. Dieser “traditionalistische Goetheanismus” ist aber wieder nur ein “Handwerk”, in dem Goethe äußerlich nachgeahmt wird. Und das gilt entsprechend auch für einzelne “Schulen” dieser traditionalistischen Richtung, die “weiterentwickelte goetheanistische Methoden” tradieren. Auf diese Weise kann man Goethe nicht wirklich gerecht werden. Ich würde so etwas deshalb nicht als “Goetheanismus” bezeichnen; insofern Vertreter derartiger Schulen ihre Traditionen als “goetheanistisch” bezeichnen, muß man sie aber wohl zum “real existierenden Goetheanismus” rechnen.

Goethe selbst war kein Traditionalist - jedenfalls nicht als Naturforscher. Wohl studierte er die Standardwerke und erwarb sich so als Autodidakt gute Kenntnisse auf den Gebieten, die ihn interessierten. Aber dabei setzte er sich zugleich kritisch mit diesen Standardwerken auseinander und hinterfragte insbesondere die darin vertretenen Methoden. Im eigenen Umgang mit den jeweiligen Forschungsgegenständen entwickelte er dann eigene Vorgehensweisen, wie sie ihm den jeweiligen Gegenständen am angemessensten erschienen.

Goethe war als Naturforscher ungewöhnlich frei, souverän - und zwar in zweifacher Hinsicht: Erstens verfügte er im Vergleich zu Fachwissenschaftlern (damaligen wie heutigen) über ein hohes Maß an Freiheit gegenüber herrschenden Traditionen. Als Autodidakt mußte er keine Prüfungen bestehen und nicht den Erwartungen irgendwelcher Professoren genügen. So mußte er nichts “schlucken”, was ihm fragwürdig erschien. Dazu hatte er noch das Glück, seine Forschungen völlig unabhängig betreiben zu können, weil sein Lebensunterhalt anderweitig gesichert war.

Aber zu dieser äußeren Freiheit kam eine besondere innere Souveränität hinzu: Goethe war als Naturforscher nicht besessen von einer bestimmten Idee, er verfocht nicht bestimmte Ansichten, für die er sich einseitig engagierte. Gewiß war er kein leidenschaftsloser Mensch, aber als Naturforscher gab er sich nicht seinen persönlichen Sympathien und Antipathien hin, sondern pflegte in hohem Maß eine “Gleich-Gültigkeit”, ein Absehen von persönlichen Vorlieben und Abneigungen (was übrigens voraussetzt, daß man diese gut kennt!).

Diese Behauptung mag überraschen, ja absurd erscheinen, wenn man weiß, wie scharf Goethe gegen Isaac Newton polemisierte. Darauf werden wir noch zurückkommen. Die hochgradige “Gleich-Gültigkeit” des Naturforschers Goethe wird dem gründlichen und aufmerksamen Leser seiner Schriften aber nicht entgehen. Wobei sie ihm zunächst vielleicht als “Langweiligkeit” oder “Langatmigkeit” unangenehm aufstoßen mag. Die oft nicht gerade mitreißende Darstellungsweise Goethes in diesen Schriften (bekanntlich konnte er auch anders schreiben) ist jedoch kein Ausdruck mangelnden Interesses oder mangelnder Begeisterung (so war “gleich-gültig” hier nicht gemeint!), sondern ein Ausdruck seines Bemühens, allen Aspekten in gleicher Weise gerecht zu werden - auch denen, die subjektiv weniger interessant erscheinen mögen.

Anders gesagt: Goethe zeigte ein hohes Maß an Interesse für seine Forschungsgegenstände, er konnte sich über Jahre und Jahrzehnte mit Hingabe einem Thema widmen, aber er ließ sich dabei weder “treiben”, noch verbiß er sich. Er war immer wieder bestrebt, sein Interesse allseits zu entwickeln, das Eine wie das Andere zu (be-)achten. So interessierte er sich als Forscher nicht nur für manche Pflanzen (obwohl ihm als Gärtner gewiß manche lieber waren als andere), sondern für alle, denen er begegnete. Darin hatte er in Carl von Linné (1707-1778), dem Begründer der modernen Pflanzensystematik, ein großes Vorbild. Aber anders als Linné und als die meisten Pflanzenliebhaber (wie auch Fachbotaniker) war er nicht hauptsächlich darauf aus, die verschiedenen Pflanzen zu unterscheiden und zu benennen, sondern er achtete ebenso auf Ähnlichkeiten und auf Übergänge. Auch darin war er auf Allseitigkeit bedacht.

Während Andere sich damit begnügten (und bis heute zumeist damit begnügen), die verschiedenen Pflanzen zu unterscheiden und sie einer bestimmten Art, einer Gattung und einer Familie zuzuordnen, interessierte sich Goethe ebenso für ihre Ähnlichkeiten, für das “gemeinsame Gesetz”. Wo andere nur die Teile einer Pflanze unterschieden, ihnen Namen gaben und vielleicht darüber spekulierten, was sie miteinander zu tun haben könnten, untersuchte Goethe konkret die Übergänge, die Zwischenformen, und versuchte die Entwicklung der Pflanze im Ganzen zu erfassen.

So wurde er zum Begründer der Pflanzen-Morphologie (deren Namen er auch prägte). Dieser historische Beitrag Goethes zur Entwicklung der Botanik wird heute allgemein gewürdigt. Gewöhnlich wird ihm aber auch nur eine historische Bedeutung beigemessen. Wie es Goethe möglich war, diesen historischen Beitrag zustandezubringen, danach wird selten gefragt. Das ist schade, aber auch verständlich.

Daß ausgerechnet ein Autodidakt im Alleingang und methodisch außerhalb der herrschenden Tradition stehend ein ganz neues Kapitel in der Wissenschaft aufschlägt und daß die “zuständige” Fachwelt erst Jahrzehnte später - womöglich erst nach dem Tod dieses Pioniers - daran anknüpft, ist zwar keine Seltenheit. Man denke etwa an den Physiklehrer und Gärtner Gregor Mendel (1822-1884), den Begründer der Genetik, dessen Arbeit vierzig Jahre lang unbeachtet blieb.

Aber Mendel - um bei diesem Vergleich zu bleiben - war seiner Zeit offenbar darin voraus, daß er mehr auf Einzelheiten schaute und mehr rechnete, als es unter Botanikern damals üblich war. Vierzig Jahre später kamen gleich drei Botaniker unabhängig voneinander zu entsprechenden experimentellen Ansätzen wie zuvor Mendel - und stießen dann auf die Schrift dieses Vorläufers. Die Zeit war reif geworden.

Goethes Vorgehensweise dagegen blieb auch vierzig oder hundert Jahre später den Fachbotanikern in wesentlichen Teilen fremd. Denn er unterschied sich gerade darin vom “Mainstream”, daß er (relativ!) weniger auf Einzelheiten schaute und auch weniger an Quantifizierung interessiert war. Das lag nicht in dem Trend, der zu immer mehr Spezialisierung, zum immer Kleineren und zu immer mehr Quantifizierung und Formalisierung drängte und bis heute drängt. Aus dieser Perspektive mußte Goethe schon sehr bald “altmodisch” wirken. Erst wenn diese Perspektive verlassen wird, kann die zeitlose Bedeutung der Goetheschen Vorgehensweise in der Botanik sichtbar werden. Wir kommen darauf zurück.

Das andere große Thema in der Naturforschung Goethes neben der Botanik war die “Farbenlehre”. Auch auf diesem Gebiet studierte er das Standardwerk (Newtons Opticks, 1704) und versuchte, sich durch eigene Untersuchungen kundig zu machen. Wie im Falle der Botanik entstand auch hier eine ausführliche Publikation (Zur Farbenlehre, 1810), die sogar noch viel umfangreicher wurde als Die Metamorphose der Pflanzen. Im Unterschied zur Botanik fügte Goethe hier aber einen “Polemischen Teil” an, in dem er den renommierten Sir Isaac Newton (genauer: dessen Vorgehensweise in Opticks) massiv kritisierte.

Dafür fand er damals keinerlei Verständnis. Und noch heute gilt seine Farbenlehre aus physikalischer Sicht gemeinhin als unhaltbar - ein Irrtum, den man trotz der Polemik gegen Newton dem “Dichterfürsten” nachsieht. Ansonsten hat sich diese Farbenlehre bewährt - in der Malerei, um derentwegen Goethe übrigens überhaupt angefangen hatte, sich mit diesem Metier zu befassen. Wo es um die Wirkung der Farben auf den Menschen geht, da lag Goethe offenbar richtig. Nur seine “physikalische Begründung” gilt bis heute als Verirrung - besonders da, wo sie mit Newton in Konflikt gerät.

Ich halte das meinerseits für ein Fehlurteil. Wer Goethe in dieser Sache nicht folgen kann, ist nach all meiner Erfahrung offenbar zu stark befangen in der Denktradition, die Newton begründete. Was allerdings auch wieder sehr verständlich ist. Nur sollten verständliche Fehlurteile dem Fortgang der Wissenschaft nicht im Wege stehen.

Goethes Kritik an Newton war von ganz ähnlicher Art wie die an Linné (siehe Cornelia Delleske: “Goethes naturwissenschaftliche Methode”, Tycho des Brahe-Jahrbuch für Goetheanismus 1985, S. 38-60). Gegenüber Linné war er aus heutiger Sicht im Recht, und was er an Linnés Ausführungen kritisierte, gilt längst als überholt (und ist heute kaum einem Biologen mehr bekannt). Was er an Newtons Vorgehensweise kritisierte, wird dagegen bis heute kaum hinterfragt, und die dabei von Newton gewonnenen “Ergebnisse” sind zwar aus streng wissenschaftlicher Sicht ebenfalls längst nicht mehr haltbar, aber sie sind seit langem Teil der “Allgemeinbildung” und werden auch innerhalb der Physik weiter tradiert. Das macht es relativ schwer, Goethes Standpunkt in seinem Streit mit Newton überhaupt zu erfassen.

Aber die Mühe lohnt sich. Ich widme diesem Streit deshalb eine eigene Seite: Goethe contra Newton. Danach folgt eine Seite über Goethes Botanik in ihrem wissenschaftshistorischen Kontext, und eine weitere Seite befaßt sich mit der Erkenntnistheorie Rudolf Steiners als Beitrag zur theoretischen Begründung des Goetheanismus.

 

Weitere Links: Eine (nicht-goetheanistische) Website über den Forscher Goethe

Goethes naturwissenschaftliche Schriften online

Literatur: Henri Bortoft: Goethes naturwissenschaftliche Methode (1995)

Letzte Aktualisierung dieser Seite (Links hinzugefügt): 11. 4. 2004

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