Goethes Botanik

Goethes Botanik in ihrem wissenschaftshistorischen Kontext

 

Einleitung

Biologie vor Goethe: Bestandsaufnahme der Schöpfung

“Evolution” als Ent-Wickelung des Eingeschachtelten

Anfänge einer Pflanzen-Morphologie vor Goethe

Goethes Metamorphose der Pflanzen im Vergleich mit den “Vorarbeiten” C.F. Wollfs

Goethe und die romantische Naturphilosophie

Anleihen bei Vorstellungen der damaligen Physiologie

Goethe und der Darwinismus

Der Weg des Reduktionismus

Der zeitlose Wert der Goetheschen Sichtweise

 

Einleitung

Heutige Biologen interessieren sich zumeist wenig bis gar nicht für die Geschichte ihrer Fachwissenschaft. Die Forschung schreitet so rasch voran, dass man schon genug zu tun hat, um in seinem Fachbereich auf dem Laufenden zu bleiben. Lehrbücher veralten innerhalb weniger Jahre, und was vor einigen Jahrzehnten Stand der Forschung gewesen sein mag, interessiert längst niemanden mehr.

Einige wenige Meilensteine in der Entwicklung der Biologie gehören jedoch zum Basiswissen der Biologen und ergeben immerhin ein rudimentäres Geschichtsbewußtsein. Dazu gehört 1953, das “Geburtsjahr der Molekularbiologie”, in dem James Watson und Francis Crick die Struktur der DNA aufklärten und in dem - weniger bekannt - auch eine Reihe anderer Durchbrüche gelang, mit denen das begann, was heute als das Herzstück der Biologie gilt: die Molekularbiologie. Weitere fünfzig Jahre zurück, im Jahr 1900, setzte mit der (Wieder-)Entdeckung der Mendelschen Regeln das Zeitalter der Genetik ein. Und das älteste Datum, mit dem überhaupt anfing, was heute in der Biologie gemeinhin als “wissenschaftlich” akzeptiert wird, ist 1859, das Erscheinungsjahr von Charles Darwins On the Origin of Species (Über die Entstehung der Arten). Jede dieser drei Jahreszahlen markiert im Rückblick das Ende eines “finsteren Zeitalters”, und die Zeit vor Darwin gilt als so finster, dass man sie ganz den Historikern überlässt.

Aus dieser Sicht erscheint es hochgradig seltsam, wenn ein paar Biologen mit ihren Arbeiten ausgerechnet an den Schriften eines Dichters und Hobby-Botanikers anknüpfen wollen, der in jenem finstersten Zeitalter vor Darwin lebte und wirkte. Dennoch gibt es sie, die Goetheanisten, und in ihrer Mehrzahl stehen sie dem heutigen biologischen Mainstream ähnlich verständnislos gegenüber wie dieser ihnen.

Ich denke, es würde beiden Seiten gut tun, ihre Geschichtskenntnisse aufzufrischen. Wer - wie ich seit der Mitte meines Studiums (ca. 1980) - die heutige, von der Molekularbiologie dominierte Biologie irgendwie langweilig findet, wird vielleicht (wie ich ca. 1983) bei Goethe und bei manchen Goetheanisten einen ganz neuen Zugang zum Lebendigen finden. Und wer sich bereits zu den Goetheanisten zählt, sollte sich erst recht mit der Geschichte der Biologie befassen. Denn Goethe wird erst dann wirklich verständlich, wenn man den Kontext kennt, in dem er lebte und wirkte.

Ich beschränke mich hier auf den wissenschaftshistorischen Kontext: Was war das für eine Biologie, die Goethe vorfand, als er etwa 1780 anfing, sich näher für Botanik zu interessieren? Woran knüpfte er an, wovon setzte er sich ab - auch ohne das jeweils ausdrücklich zu erwähnen? Und was passierte danach, das Goethe also noch nicht wissen konnte, das aber kennen sollte, wer Goethes Arbeiten und sein methodisches Vorgehen heute beurteilen will?

 

Biologie vor Goethe: Bestandsaufnahme der Schöpfung

Im 18. Jahrhundert war es noch eine selbstverständliche Voraussetzung fast jeglicher Naturforschung, dass man es mit einer göttlichen Schöpfung zu tun hatte. Alle “Geschöpfe” waren von Gott geschaffen, und dem Menschen war es nach der vorherrschenden Meinung nicht “gegeben”, die Weisheit dieser Schöpfung zu erfassen.

Deshalb beschränkte sich die Naturforschung weitgehend darauf, die Geschöpfe zu katalogisieren. Eine weisheitsvolle Ordnung wurde zwar als sicher angenommen (da von Gott herrührend), aber man sprach dem menschlichen Forscher zumeist die Fähigkeit ab, diese zu ergründen. Die Menschen mussten sich mit “künstlichen Systemen” zufrieden geben, die ihren “niederen” Zwecken dienlich waren. Dem entsprechend war die Botanik lange Zeit nur eine Unterdisziplin der Medizin: die Kunde von den heilkräftigen Pflanzen.

Der einflussreichste Systematiker dieser Zeit war Carl von Linné (1707-1778), zugleich Leibarzt des schwedischen Königs und Professor für Medizin, Botanik und sonstige Naturgeschichte in Uppsala. Auch er ging davon aus, dass es so viele Pflanzenarten gebe, wie Gott sie bei der Erschaffung der Welt mit erschaffen habe. Später erwog Linné allerdings die Möglichkeit, dass ein Teil der vorzufindenden Mannigfaltigkeit in der Pflanzenwelt (nämlich die Arten innerhalb einer Gattung) auch dadurch entstanden sein könnte, dass die ursprünglich von Gott geschaffenen Arten sich miteinander gekreuzt haben.

Ein Entstehen wirklich neuer Pflanzen- oder Tierarten nach dem göttlichen Sechstagewerk wäre hingegen mit dem Wortlaut der biblischen Schöpfungsgeschichte nicht zu vereinbaren gewesen. Eine Denkmöglichkeit war es zwar, und als solche konnte es auch formuliert werden. Aber mit einem wissenschaftlichen Anspruch vertreten konnte man solche Gedanken kaum.

So schrieb der französische Philosoph Denis Diderot zwar in seinen Gedanken zur Interpretation der Natur (1754): “Im Tier- und Pflanzenreich nimmt ein Individuum sozusagen doch einen Anfang, wächst, dauert, verfällt und vergeht. Sollte es bei ganzen Arten nicht ebenso sein?” Aber dies konnte nur ein Gedanke sein, zu dem man sich nicht öffentlich bekennen konnte, denn - wie Diderot schon vorab klargestellt hatte: “Die Religion erspart uns sehr viele Abschweifungen und Arbeiten. Hätte sie uns nicht über den Ursprung der Welt und über das universelle System der Dinge aufgeklärt: wie viele verschiedene Hypothesen würden wir dann schon für das Geheimnis der Natur gehalten haben!” Aus diesen Worten spricht die Vorsicht eines freien Denkers, der bereits reiche Erfahrungen mit der Zensur seines absolutistischen Heimatlandes gemacht hatte (bis hin zu einer Haftstrafe) und der es deshalb gewohnt war, für “Leser mit doppelter Lesefähigkeit” zu schreiben, “für Leser, welche die Untertöne und Feinheiten eines Textes aufspüren sollten, der vordergründig so abgefasst war, dass er das Misstrauen der Zensoren einschläferte.” (Robert Mandrou, Staatsräson und Vernunft, 1975.)

 

“Evolution” als Ent-Wickelung des Eingeschachtelten

Der statischen Auffassung der Schöpfungsgeschichte - “Es gibt nichts Neues unter der Sonne” - entsprachen ebenso statische Vorstellungen von der Ontogenese (Entwicklung des einzelnen Organismus) und der Fortpflanzung. Allerdings mit einem eher entgegengesetzten weltanschaulichen Hintergrund.

Der naive Glaube an die “Urzeugung”, an die Entstehung von Würmern und Kröten aus Schlamm, von Fliegen aus Mist und dergleichen, war gerade erst durch mikroskopische Untersuchungen überwunden. Und parallel dazu hatte die Aufklärung den mittelalterlichen Glauben an ein jederzeitiges Eingreifen Gottes in das Weltgeschehen in Form von Wundern zurückgedrängt. In dieser Situation erschien es als Rückfall in mittelalterliche Vorstellungsweisen, wenn jemand behauptete, ein hochorganisiertes Wesen wie eine Fliege oder ein Küken entstehe aus einer amorphen Masse.

Dabei mangelte es keineswegs an den Möglichkeiten, diese Dinge empirisch zu untersuchen. Die Entwicklung des Kükens aus dem Eidotter und die diverser anderer Tiere aus ähnlich amorphen Massen hatte bereits William Harvey 1651 gründlich untersucht und dargestellt. Aber wie war das zu interpretieren?

Nach der im 18. Jahrhundert herrschenden Auffassung konnte es sich nur darum handeln, dass etwas bereits Fertiges, aber irgendwie Eingewickeltes, sich ent-wickelte und damit in die Erscheinung trat. In diesem Sinne wurden damals die Worte “Entwickelung” und “Evolution” gebraucht. Alle Lebewesen waren bereits in ihren Vorfahren vorgebildet, präformiert, und mussten sich nur noch ent-wickeln. Und konsequent weiter gedacht folgte daraus, dass bei der Erschaffung der Lebewesen bereits alle künftigen Generationen mit erschaffen worden waren - ineinander “geschachtelt” wie die russischen Matrioschka-Puppen.

Auf diese Weise kam man nicht mit der alttestamentlichen Schöpfungslehre in Konflikt, aber das unerklärliche “Wunder” war an den Anfang der Welt verbannt.

Natürlich brachten diese Vorstellungen allerlei Probleme mit sich. So konnten bei der geschlechtlichen Fortpflanzung logischerweise nicht bei beiden Geschlechtern zugleich die künftigen Generationen eingeschachtelt sein. Darüber entbrannte ein Streit zwischen zwei Lagern, deren jedes einem der Geschlechter allein die maßgebliche Rolle bei der Fortpflanzung zuschrieb. Und jede Seite konnte immer neue “Beweise” für ihre Ansicht vorbringen, ohne dabei für irgendwelche Gegenbeweise offen zu sein.

So “sahen” die Pioniere der Mikroskopie wie der berühmte Antonie van Leeuwenhoek (1632-1723) in den von diesem entdeckten Spermien komplette “Tierchen” (animalculi), die im Mutterleib nur noch wachsen mussten. Und das andere Lager betrachtete die - übrigens ebenfalls von Leeuwenhoek entdeckte - ungeschlechtliche Fortpflanzung (“Jungfernzeugung”) mancher Insekten als “Beweis” für ihre gegensätzliche Anschauung.

Bei Pflanzen bestand dieses Problem scheinbar nicht, denn bei ihnen war “klar”, dass die Tochterpflanze im Samen vorgebildet ist. Aber der im Bereich der Zoologie tobende Streit zwischen Animalkulisten und Ovisten (ovum = Ei) verdeutlicht, wie theoretisch-abstrakt damals “Forschung” betrieben wurde und welch geringe Rolle empirische Befunde dabei spielten.

 

Anfänge einer Pflanzen-Morphologie vor Goethe

Neben diesen ziemlich spekulativen Theorien gab es eine schon alte Tradition exakter Darstellungen und Beschreibungen der Pflanzen-Gestalten. Bedeutende Pioniere der naturgetreuen bildlichen Darstellung waren Leonardo da Vinci (1452-1519) und Albrecht Dürer (1478-1528). Ihnen folgten im 16. Jahrhundert die Autoren diverser “Kräuterbücher”, welche anfangs noch überwiegend als illustrierte Kommentare zu antiken Schriften über die Pflanzen und ihre medizinische Verwendung gedacht waren, allmählich aber durch die Hinzunahme neuer, in der Antike noch nicht erwähnter Pflanzen über diese ursprüngliche Zielsetzung hinauswuchsen.

Gemeinsam ist all diesen Darstellungen, dass sie sich nur voll entwickelten Pflanzen widmeten. Und wo es sich nicht um rein künstlerische Naturstudien handelte, sollten sie der Unterscheidung und Bestimmung der Arten dienen. Mit der zunehmenden Zahl neuer Pflanzenarten verlor die ursprüngliche Orientierung an antiken Schriften jedoch ihren Sinn, und man suchte nach neuen Ordnungskriterien. So entwarf der italienische Arzt und Botaniker Andrea Cesalpino (1519-1603) ein System, bei dem er besonders die Früchte und Samen beachtete. Sein schweizer Kollege Gaspard Bauhin (1560-1624) wählte hingegen als wichtigstes Kriterium die Form der Laubblätter. Und im Zusammenhang mit diesen Bemühungen um eine handhabbare Ordnung untersuchte und beschrieb man natürlich auch die betreffenden Teile der Pflanzen genauer.

Einen vorläufigen Höhepunkt fand dieses Unterscheiden und Beschreiben der verschiedenen Teile der Pflanze in dem 1678 posthum erschienen Werk Isagoge phytoscopica des Hamburger Gymnasiallehrers Joachim Jung (1587-1657). In Geschichte der Biologie von Ilse Jahn & al. (2. Aufl. 1985) wird Jung deshalb als “Begründer einer Morphologie der Pflanzen” bezeichnet (S. 178). Auch Goethe wurde in seinen letzten Lebensjahren auf diesen “edlen Vorgänger” aufmerksam. Aber Goethe legte Wert auf die Feststellung, dass das, wofür er selbst das Wort “Morphologie” geprägt hatte, bei Jung noch nicht zu finden war: “... es findet sich auch nicht die geringste Spur dessen, was wir Metamorphose der Pflanzen genannt haben; keine Andeutung, dass ein Organ sich aus dem andern entwickle ...”. Stattdessen “Aufmerksamkeit auf das Besondere, Unterscheidungsgabe und daher auch richtiges Zusammenstellen ...”. (Goethe, Leben und Verdienste des Doktor Joachim Jungius, 1828.)

Einen “trefflichen Vorarbeiter” fand Goethe jedoch (ebenfalls erst nach der Publikation seiner Metamorphose der Pflanzen) in Caspar Friedrich Wolff (1732-1794), einem Berliner Arzt, der allerdings bereits 1766 nach St. Petersburg ausgewandert war, weil die Berliner Professorenschaft diesen unkonventionellen Forscher offen bekämpft und ihm jegliches Fortkommen in seiner Heimatstadt verbaut hatte. Wolff war ein erklärter Gegner der herrschenden Präformationslehre (s.o.). Aus heutiger Sicht gelang ihm bereits 1759 mit seiner Dissertation Theoria generationis die klare Widerlegung dieser Lehre, indem er erstmals bei Pflanzen und Tieren wirklich verfolgte und beschrieb, wie die verschiedenen Organe aus ganz undifferenziertem Material hervorgehen. Im Falle der Pflanzen entdeckte er im Zentrum der Knospen den von ihm so genannten Vegetationspunkt, und er verfolgte, wie aus diesem ganz undifferenzierten Punkt winzige neue Blattanlagen hervorgehen, während die älteren Anlagen sich allmählich in ausgewachsene Blätter verwandeln. Von einer Präformation, einem Vorgebildetsein aller Blätter konnte demnach keine Rede sein.

Dieser Beweis gegen die Präformationslehre wurde jedoch von der zeitgenössischen Gelehrtenwelt nicht als solcher aufgenommen. Wolffs Werke wurden zwar zitiert, es wurde auch gegen sie polemisiert, aber der offizielle Diskurs beschränkte sich weiter auf den theoretischen Streit zwischen den Animalkulisten und den Ovisten (s.o.).

Auch Goethe war bei der Ausarbeitung seiner Metamorphose der Pflanzen (1790) nicht von Wolff beeinflusst, dessen Werke ihm erst durch einen Leser seiner eigenen Schrift bekannt gemacht wurden. So haben Wolff und Goethe unabhängig voneinander entdeckt und beschrieben, dass Laubblätter, Kelchblätter, Kron-, Staub- und Fruchtblätter sowie die Keimblätter in den Samen alles homologe Bildungen sind, also Metamorphosen, verschiedene Ausprägungen eines Organs: des Blattes.

Es erhebt sich die Frage, was dann das Originäre an Goethes Arbeit war, nachdem diese eine bedeutende Entdeckung schon Jahrzehnte vorher durch Wolff dargestellt und publiziert worden war.

 

Goethes Metamorphose der Pflanzen im Vergleich mit den “Vorarbeiten” C.F. Wolffs

Lassen wir gleich Goethe selbst sprechen, der 1817 (Entdeckung eines trefflichen Vorarbeiters) über Wolff schrieb, dass er “seit mehr als fünfundzwanzig Jahren von ihm und an ihm gelernt habe” (was natürlich nur Wolffs Schriften betrifft, da es zu einer persönlichen Begegnung nie kam):

“Die Identität [heute richtig: Homologie] der Pflanzenteile bei aller ihrer Beweglichkeit erkennt er ausdrücklich an; doch hindert ihn seine einmal angenommene Erfahrungsweise, den letzten, den Hauptschritt zu tun. Weil nämlich die Präformations- und Einschachtelungslehre, die er bekämpft, auf einer bloßen aussersinnlichen Einbildung beruht, auf einer Annahme, die man zu denken glaubt, aber in der Sinnenwelt niemals darstellen kann, so setzt er als Grundmaxime aller seiner Forschungen, dass man nichts annehmen, zugeben und behaupten könne, als was man mit Augen gesehen und andern jederzeit wieder vorzuzeigen imstande sei. Deshalb ist er immer bemüht, auf die Anfänge der Lebensbildung durch mikroskopische Untersuchungen zu dringen und so die organischen Embryonen von ihrer frühsten Erscheinung bis zur Ausbildung zu verfolgen.Wie vortrefflich diese Methode auch sei, durch die er so viel geleistet hat, so dachte der treffliche Mann doch nicht, dass es ein Unterschied sei zwischen sehen und sehen, dass die Geistesaugen mit den Augen des Leibes in stetem lebendigen Bunde zu wirken haben, weil man sonst in Gefahr gerät, zu sehen und doch vorbeizusehen.

Bei der Pflanzenverwandlung sah er dasselbige Organ sich immerfort zusammenziehen, sich verkleinern; dass aber dieses Zusammenziehen mit einer Ausdehnung abwechsele, sah er nicht. Er sah, dass es sich an Volum verringere, und bemerkte nicht, dass es sich zugleich veredle, und schrieb daher den Weg zur Vollendung widersinnig einer Verkümmerung zu.”

Was Goethe bei aller sonstigen Zustimmung in den Arbeiten Wolffs vermisst, das ist also auf einer Meta-Ebene angesiedelt. Mit den “Augen des Leibes” habe Wolff alles richtig gesehen, aber seine “Geistesaugen” habe er nicht entsprechend mit betätigt.

Was aber meinte Goethe mit “Geistesaugen”? Seine Beispiele im zweiten zitierten Absatz lassen es erahnen. Wolff beschrieb ganz richtig, wie die Laubblätter zur Blüte hin immer kleiner werden und schließlich im Kelch der Blüte ganz klein an einem Punkt versammelt sind. Aber Goethe betrachtete die darauf folgende Ausbildung der Kronblätter als eine neuerliche Ausdehnung, gefolgt von einer erneuten Zusammenziehung in Staubblättern und Fruchtknoten, und er beschrieb schließlich das Wachstum der Frucht wiederum als Expansion, im Gegensatz zur letztlichen Konzentration im Samen. In dieser dreimaligen Ausdehnung und Zusammenziehung sah Goethe (mit Geistesaugen) ein höheres Gesetz, welches er bei Wolff vergeblich suchte.

Und zweitens betrachtete Wolff als Verkümmerung oder Verschlechterung, was für Goethe ein “Weg zur Vollendung” war. Hier geht es also um eine qualitative Wertung, bei der Goethe nicht mit Wolff übereinstimmte. Ebenso handelt es sich auch im ersten Beispiel ja um ein qualitatives Empfinden, das sich an die bloße Beschreibung der Blattmetamorphose anschließt. Aber Goethe bemühte sich, dieses Qualitative auch begrifflich klar zu fassen, und darin geht er über das hinaus, was Wolff schon vor ihm formuliert hatte.

So unterschied Goethe die zweite Ausdehnung und Zusammenziehung im Blütenbereich deutlich von der ersten im Bereich der Laubblätter: Die Metamorphose im Bereich der Laubblätter bezeichnete er als eine sukzessive, weil Blatt für Blatt nacheinander angelegt und ausgebildet wird. In der Blüte dagegen geschieht dies simultan: Alle Organe werden gleichzeitig angelegt und entfaltet.

In diesem begrifflichen Zusammenhang wird auch verständlich, was Goethe mit den Worten “Weg zur Vollendung” meinte: Die erste Zusammenziehung (der Laubblätter am Blütenstand) endet mit dem Übergang zur zweiten, simultanen Ausdehnung in der Blüte. Von diesem Ende her betrachtet, macht die Zusammenziehung Sinn und erscheint nicht als Verkümmerung wie bei Wolff.

Damit ist zumindest angedeutet, was Goethe meinte, wenn er schrieb, er habe die “Urpflanze” gefunden: eine qualitativ-begrifflich fassbare Gesetzmäßigkeit, die aller Pflanzenbildung zugrunde liegt und die bei einer vergleichenden Betrachtung der Vielfalt pflanzlicher Bildungen entdeckt werden kann.

Dabei erhob Goethe selbst nicht den Anspruch, dieses “geheime Gesetz” schon letztgültig aufgeklärt und dargestellt zu haben. Es ging ihm weniger um das Aufstellen einer Lehre als um die Darstellung einer Betrachtungsweise. Unter diesem Gesichtspunkt betrachten wir in den folgenden Kapiteln das Verhältnis der Goetheschen Botanik zu neueren Entwicklungen auf diesem Gebiet.

 

Goethe und die romantische Naturphilosophie

Wie Goethe als Dichter der Romantik nahe stand, so werden auch seine naturwissenschaftlichen Arbeiten oft in die Nähe der romantischen Naturphilosophie jener Zeit (1790 bis 1830) gestellt, wenn nicht gar ganz dieser zugerechnet. Das ist besonders insofern problematisch bis unhaltbar, als die gemeinte Naturphilosophie mindestens so sehr zur Spekulation neigte wie die ältere Präformations- und Einschachtelungstheorie, während Goethes Arbeiten sich gerade durch den Verzicht auf Spekulationen auszeichneten.

Die Naturphilosophen pflegten den schon vorher verbreiteten Hang zur Spekulation eifrig weiter. Nur die Inhalte ihrer Theorien waren neu oder jedenfalls anders als bei den Präformisten. An die Stelle mechanistischer Vorstellungen wie der des Eingeschachteltseins und des Sich-Auswickelns traten bei ihnen Vorstellungen über allerlei Kräfte, über numerologische und geometrische Gesetzmäßigkeiten usw., die überwiegend ebenso spekulativ erdacht waren wie jene.

Goethe hat sich zu den Spekulationen der einen wie der anderen Art nur selten geäussert. Wie er in obigem Zitat zu Wolff eher beiläufig die Einschachtelungslehre erwähnte, ist dafür typisch. Anders als bei der Farbenlehre, wo er es angebracht fand, sich ausführlich in polemischer Weise (was damals keinen abwertenden Beigeschmack hatte) mit den durch Newton geprägten herrschenden Vorstellungen auseinanderzusetzen (siehe vorige Seite), vertraute er in der Botanik offenbar allein auf die positive Wirkung seiner Metamorphose der Pflanzen. Lediglich gewissen präformistisch-spekulativen Behauptungen Linnés widmete er darin ein kritisches Kapitel.

In späteren Jahren ließ Goethe sich allerdings mitunter von der einen oder anderen Idee “anstecken”, die man heute klar der spekulativen Naturphilosophie zurechnen würde. So berichtet er in dem Aufsatz Verstäubung, Verdunstung, Vertropfung (1820) von einem Gespräch mit dem zeitweilig in Jena tätigen Botaniker Franz Joseph Schelver, der aus theoretischen Gründen die eigentlich längst geklärte Bedeutung der Bestäubung des Fruchtknotens durch den Pollen ablehnte und die Existenz einer Sexualität bei Pflanzen abstritt.

Schelver konnte das Interesse Goethes (der als Geheimrat übrigens sein Vorgesetzter war) besonders dadurch gewinnen, dass er seine “Verstäubungslehre” ausdrücklich an dessen Metamorphosenlehre anschloss. Angesichts des Umstands, dass Schelvers Lehre in der Fachwelt allseits schroff abgelehnt wurde, schrieb Goethe: “als geistreiche Vorstellung, auch nur hypothetisch betrachtet, verdient seine Ansicht Aufmerksamkeit und Teilnahme. Überhaupt sollte man sich in Wissenschaften gewöhnen, wie ein Anderer denken zu können; mir als dramatischem Dichter konnte dies nicht schwer werden, für einen jeden Dogmatisten freilich ist es eine harte Aufgabe.” (Auch der Goethe-Herausgeber Steiner ließ sich übrigens von Schelver anstecken, wie sein umfangreicher Kommentar zu diesem Aufsatz Goethes zeigt. Besonders in der von Steiner angeregten biologisch-dynamischen Landwirtschaft ist deshalb Schelvers Ansicht noch heute verbreitet.)

Im letzten Satz (des Goethe-Zitats) ist Goethes ausserordentliche Souveränität besonders schön in Worte gefasst. Er stand über den Spekulationen und weltanschaulichen Streitigkeiten seiner Zeit. Aus heutiger Sicht kann das anders erscheinen, wenn man nämlich nur seine diesbezüglichen Schriften mit dem vergleicht, was heute geschrieben wird. Man muss Goethe mit seinen Zeitgenossen vergleichen und die unvermeidliche Zeitbedingtheit mancher seiner Äusserungen erkennen, um ihn recht verstehen und beurteilen zu können.

 

Anleihen bei Vorstellungen der damaligen Physiologie

Seltsam erscheinen einem heutigen Leser, der sich ein wenig in Botanik auskennt, auch einige Passagen in der Metamorphose der Pflanzen, wo Goethe über die Säfte in der Pflanze schreibt und von daher die Metamorphose scheinbar kausal erklären will. So schreibt er:

“Man hat sich durch Erfahrungen unterrichtet, dass die Blätter verschiedene Luftarten einsaugen und sie mit den in ihrem Innern enthaltenen Feuchtigkeiten verbinden; auch bleibt wohl kein Zweifel übrig, dass sie diese feineren Säfte wieder in den Stengel zurückbringen und die Ausbildung der in ihrer Nähe liegenden Augen dadurch vorzüglich befördern. (...) so wird man sich gegenwärtig eher überzeugen, dass ein oberer Knoten, indem er aus dem vorhergehenden entsteht und die Säfte mittelbar durch ihn empfängt, solche feiner und filtrierter erhalten, auch von der inzwischen geschehenen Einwirkung der Blätter genießen, sich selbst feiner ausbilden und seinen Blättern und Augen feinere Säfte zubringen müsse.”

Auf solche Weise “erklärt” Goethe die Metamorphose der Blattgestalten von Knoten zu Knoten. Wobei jedoch deutlich ist, dass Goethe selbst weder die Säfte noch die “Luftarten” selber untersucht hat. Er versuchte nur, seine eigenen, rein morphologischen Beobachtungen durch das damalige “Wissen” über deren physiologische Grundlagen zu ergänzen. Und so ungewohnt und vage seine Äusserungen zur physiologischen Seite für heutige Ohren auch erscheinen mögen, geben sie doch treffend das Wenige wieder, was man damals darüber wusste:

“Man hat bemerkt, dass häufige Nahrung den Blütenstand einer Pflanze verhindere, mäßige, ja kärgliche Nahrung ihn beschleunige. Es zeigt sich hierdurch die Wirkung der Stammblätter, von welcher oben die Rede gewesen, noch deutlicher. So lange noch rohere Säfte abzuführen sind, so lange müssen sich die möglichen Organe der Pflanze zu Werkzeugen dieses Bedürfnisses ausbilden. Dringt übermäßige Nahrung zu, so muss jene Operation immer wiederholt werden, und der Blütenstand wird gleichsam unmöglich. Entzieht man der Pflanze die Nahrung, so erleichtert und verkürzt man dagegen jene Wirkung der Natur (...)”.

Wir müssen nur “Nahrung” durch “Dünger” ersetzen und dabei besonders an die Stickstoff-Komponente des Düngers denken. Und an die Stelle der behelfsmäßigen Vorstellung einer “Filtration” der Säfte hat die neuere Kenntnis von der Assimilation zu treten, durch welche der “rohe” Stickstoff in pflanzliches Eiweiss umgewandelt wird und aus den eingesogenen “Luftarten” in Verbindung mit den inneren “Feuchtigkeiten” Zucker entsteht. Dann ist Goethes “seltsame” Darstellung in heute geläufige Worte übersetzt. (Eine kurze Geschichte der Biochemie, aus der sich der Kenntnisstand zur Goethezeit entnehmen lässt, findet sich hier.)

 

Goethe und der Darwinismus

Es wird immer wieder behauptet, Goethes Botanik sei veraltet, seit Charles Darwin mit seinem 1859 erschienenen On the Origin of Species dem Gedanken an eine natürliche Evolution der Organismen (also hier jetzt stammesgeschichtlich gemeint, im Gegensatz zu dem oben behandelten, ahistorischen “Evolutions”-Begriff der Präformisten) zum allgemeinen Durchbruch verholfen hat.

Richtig ist an dieser Behauptung, dass seit der Etablierung der Lehre Darwins als einer zentralen “Wahrheit” der Biologie, also seit dem frühen 20. Jahrhundert, “biologisches” Denken zu großen Teilen ein Spekulieren darüber ist, wie diese oder jene Eigenschaft eines Lebewesens im Zuge der “natürlichen Zuchtwahl” entstanden sein könnte. Derartige Spekulationen findet man natürlich bei Goethe nicht. Aber ist das tatsächlich ein Mangel, dessentwegen er heute als “veraltet” gelten muss?

Wie wir schon oben sahen, war der Gedanke einer Veränderlichkeit der Arten auch zu Lebzeiten Goethes nicht unbekannt. Er verstieß gegen das religiöse Dogma der biblischen Schöpfungsgeschichte, und deshalb war es z.B. in Frankreich vor der Revolution von 1789 gefährlich, ihn auszusprechen. Aber gedacht wurde er, und publiziert wurde er ebenfalls, wie in obigem Zitat von Diderot oder in dem “Science Fiction”-Bestseller Telliamed von Benoit de Maillet, der erst posthum 1748 im wesentlich liberaleren Holland herauskam.

Es waren besonders die hauptberuflichen Wissenschaftler, die derart ketzerische Lehren nicht im Munde führen durften, weil sie fast überall in feudalistischen Staaten lebten, in denen “Ketzerei” eine Straftat war. Das änderte sich in Frankreich mit der Revolution. Zwanzig Jahre später brachte Jean Baptiste de Lamarck seine Philosophie Zoologique (1809) heraus, womit erstmals ein renommierter Wissenschaftler sich offen und ausführlich mit der Hypothese einer stammesgeschichtlichen Evolution befasste.

Auch Goethe waren solche Gedanken vertraut, und sie gehörten zum weltanschaulichen Hintergrund auch seiner morphologischen Arbeiten. So schrieb er 1817 im Vorwort zu einer Neuauflage seiner Metamorphose der Pflanzen über Diskussionen mit dem befreundeten Philosophen Johann Gottfried Herder (1744-1803): “Unser tägliches Gespräch beschäftigte sich mit den Uranfängen der Wassererde und der darauf von alters her sich entwickelnden Geschöpfe. Der Unranfang und dessen unablässiges Fortbilden ward immer besprochen und unser wissenschaftlicher Besitz durch wechselseitiges Mitteilen und Bekämpfen täglich geläutert und bereichert.”

Darwins besondere Leistung bestand nicht darin, derartige Gedanken erstmals zu denken oder zu publizieren. Der Erfolg seines Hauptwerks beruhte vor allem darauf, dass er eine kausale Erklärung für die Entstehung neuer Arten anbot, welche damals moderne Denkmuster aus anderen Bereichen übernahm. Der wohl wichtigste Gedanke war das “Überleben der Tüchtigsten” (survival of the fittest), und der war nach eigenem Bekunden Darwins einem Buch von Thomas Robert Malthus entlehnt, worin dieser sich Gedanken über den Konkurrenzkampf zwischen Menschen bei unzureichender Nahrungsversorgung gemacht hatte. (Es entbehrt nicht der Ironie, wenn Darwins in der Biologie “bewährte” Lehre in neuerer Zeit umgekehrt zur Begründung des menschenverachtenden “Sozialdarwinismus” herangezogen wurde und wird.)

So führte Darwin ein neues Paradigma, ein neues Erklärungsmuster in das biologische Denken ein. Wie es vor Goethe üblich war, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen in der belebten Welt einer göttlichen Schöpfung zuzuschreiben und darüber zu spekulieren, wie sie seit jener Schöpfung von Generation zu Generation nur ausgewickelt werden, so etablierte sich nach Darwin die Gewohnheit, die selbe Mannigfaltigkeit spekulativ von einer natürlichen Zuchtwahl herzuleiten. Beide Ismen, der Präformismus und der Darwinismus, sehen vom Reichtum der Erscheinungen ab, indem sie von jedem Detail in prinzipiell immer gleicher Weise zu einem gedachten Ursprung zurückgehen.

Goethe dagegen achtete sehr darauf, beim Gegenstand seiner Betrachtung zu bleiben und nicht unbedacht zu einem anderen Thema zu wechseln. Die Morphologie der Pflanzen war eben Morphologie, und die Frage, wie die verschiedenen Pflanzen einmal als solche entstanden seien, war ein ganz anderes Thema. Wie wir sahen, schloss Goethe an seine morphologischen Betrachtungen auch Anmerkungen über damit zusammenhängende physiologische Prozesse an, sofern ihm verlässliche Informationen darüber vorlagen. Ähnlich hätte er sich über fossile Pflanzenformen äussern können, wenn das etwas zum Thema beigetragen hätte. Für Fossilien interessiert hat er sich jedenfalls, und in seinen letzten Lebensjahren war er mit Caspar von Sternberg, einem der Begründer der Paläobotanik, befreundet.

Link: Goethe und die Geologie mit Informationen über sein Verhältnis zu fossilen Planzen

Eine Betrachtung fossiler Pflanzenformen hätte sich nahtlos an Goethes Botanik anschließen lassen. Spekulationen über Selektionsvorteile, die erklären sollten, warum eine Pflanze oder ein Pflanzenteil so und nicht anders gebildet ist, hätte Goethe dagegen abgelehnt:

“Die Frage nach dem Zweck, die Frage Warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Etwas weiter aber kommt man mit der Frage Wie? Denn wenn ich frage: Wie hat der Ochse Hörner? so führt mich das auf die Betrachtung seiner Organisation und belehrt mich zugleich, warum der Löwe keine Hörner hat und haben kann.” (Goethe zu Eckermann, 1831)

 

Der Weg des Reduktionismus

Als Goethe 1832 starb, brach gerade eine neue Phase der botanischen Forschung an. Eine neue Generation wesentlich leistungsstärkerer Mikroskope war auf den Markt gekommen und belebte das Interesse an mikroskopischen Untersuchungen. Der einflussreichste Botaniker in dieser Phase des Umbruchs war Matthias Jacob Schleiden (1804-1881), ein ehemaliger Rechtsanwalt, der sich mit 28 Jahren zu einem zweiten Studium entschloss.

Schleiden bekämpfte die zu jener Zeit noch blühende spekulative Naturphilosophie, “und zwar mit solcher Schärfe, dass in kurzer Zeit der ganze naturphilosophische Spuk aus der Botanik verschwand”, wie Karl Mägdefrau in seiner Geschichte der Botanik (1973) schreibt. Aber zugleich führte er selber ein gewissermaßen spekulatives Element in die Botanik ein, indem er nämlich behauptete, jede Pflanze sei “ein Aggregat von völlig individualisierten, in sich abgeschlossenen Einzelwesen”, als welche er die Zellen betrachtete (Beiträge zur Phytogenesis, 1838).

Diese Überzeugung, die er nicht etwa in Form einer Hypothese vorbrachte, sondern wie eine Tatsache hinstellte, spitzte Schleiden zu der methodischen Forderung zu: “Jede Hypothese, jede Induktion ist unbedingt zu verwerfen, welche nicht darauf abzielt, die an der Pflanze vorgehenden Prozesse als Resultat der an den einzelnen Zellen vor sich gehenden Veränderungen zu erklären.” (Grundzüge der wissenschaftlichen Botanik, 1842)

Wer die vorige Seite dieses Webartikels gelesen hat, wird die Parallele zu Newtons Vorgehen in der Optik bemerken: Beide Autoren gehen von dem Zusammengesetztsein ihres Untersuchungsgegenstands aus wie von einer Selbstverständlichkeit, ohne zu bemerken oder einzuräumen, dass es sich dabei um eine willkürliche Annahme handelt, durch welche die gesamte weitere Arbeit auf eine ganz bestimmte Richtung festgelegt wird. Newton nahm sogar für sich in Anspruch, überhaupt keine Hypothesen aufzustellen, und Schleiden setzt das Postulat des Zusammengesetztseins der Pflanze vor das Aufstellen jeglicher Hypothese, die er als wissenschaftlich anerkennen würde.

In beiden Fällen wurde das Ausgangspostulat schnell allgemein anerkannt, und in beiden Fällen ist es bis heute maßgeblich geblieben. Zwar wurde die Vergleichende Morphologie, als deren Begründer Goethe anerkannt ist, noch weit ins 20. Jahrhundert hinein fortgeführt. Aber der Mainstream in der Botanik ließ sich auf den von Schleiden vorgezeichneten Weg ein und suchte fortan nur noch auf der Ebene der Zelle nach Erklärungen (oder eben bei spekulativen Selektionsvorteilen, s.o.). Dieser Mainstream betrachtet nicht mehr die Pflanze als ein Ganzes, sondern die Zellen als die eigentlichen Organismen, aus denen die makroskopische Pflanze zusammengesetzt gedacht wird.

Diese Festlegung der Blickrichtung vom Ganzen zu den Teilen hin hat erhebliche Konsequenzen. So wird das Wachstum der Pflanze, das für Goethe und seine Zeitgenossen ein unmittelbar zu beobachtender Vorgang war, bei Schleiden zu etwas ganz anderem: “Was heißt wachsen? (...) die Pflanze besteht aus einem Aggregat einzelner, in sich abgeschlossener organischer Moleküle, den Zellen; sie vermehrt ihre Masse, indem an die vorhandenen Zellen sich neue anlegen (...). Aber die einzelne Zelle nimmt bei ihrer Ausdehnung zu einem im Vergleich zu ihrer ursprünglichen Größe oft ungeheuren Volumen (...) doch auch im Innern ihrer Membran an Stoff zu, auch hierdurch vermehrt sich die Masse der ganzen Pflanze.” (Beiträge zur Phytogenesis, 1838)

So ist für Schleiden das Wachstum der Pflanze ein nur mikroskopisch zu untersuchender Vorgang, und diese “begriffliche Klärung” betrachtete er als Voraussetzung dafür, dass man von einer wissenschaftlichen Botanik sprechen könne. Wissenschaft im Schleidenschen Sinne beginnt hier also erst, wenn man von der Pflanze, wie sie unmittelbar gegeben ist, absieht und stattdessen durch das Mikroskop blickt. Das Wachstum, wie es Goethe makroskopisch beschrieben hatte, wird reduziert auf die Bildung und Ausdehnung von Zellen.

Seither wurde diese Reduktion noch erheblich weiter getrieben. Auch die Zelle besteht wiederum aus Teilen, den Organellen, von denen Schleiden erst einige wenige kannte. In diesen Organellen wiederum laufen biochemische Prozesse ab, und diese können schließlich auf Wechselwirkungen zwischen Molekülen reduziert werden. In einem weiteren Schritt können die molekularen Wechselwirkungen auf physikalische Wechselwirkungen zwischen bestimmten Teilen der Moleküle zurückgeführt werden, - mit diesem Schritt würde man jedoch verlassen, was nach heutigem Verständnis noch als das Gebiet der Biologie gilt.

Goethe hätte - ganz entsprechend zu seiner Polemik gegen Newton - wohl schon gegen den Beginn dieses Reduktionismus bei Schleiden Einspruch erhoben, wenn er ihn noch erlebt hätte. Gegen den Blick durchs Mikroskop hatte Goethe bestimmt nichts einzuwenden - er tat ihn oft selbst mit Begeisterung (Näheres hier) -, aber die “wissenschaftliche Botanik” quasi auf das Mikroskopieren zu beschränken und aufgrund mikroskopischer Untersuchungen zu definieren, was pflanzliches Wachstum sei, das hätte er entschieden abgelehnt.

 

Der zeitlose Wert der Goetheschen Sichtweise

Der Zoologe Adolf Portmann gebrauchte in einem Vortrag zum Goethejahr 1949 einen schönen Vergleich: Goethe verhielt sich als Naturforscher wie der Theaterbesucher, der sich zum Publikum gesellt und die Darbietung genießt. Stattdessen kann man auch hinter die Kulissen schauen und nachforschen, was an Bühnentechnik hinter dieser Aufführung steckt und wie das alles funktioniert. Beide Zugangsweisen sind legitim - und schließen einander übrigens nicht aus. (Adolf Portmann, Goethes Naturforschung, abgedruckt in der Aufsatz-Sammlung Biologie und Geist, Online-Version hier.)

Allerdings macht Goethes Vorgehen nur dann einen Sinn, wenn es sich um eine Darbietung handelt, die uns als den Betrachtern auch etwas zu sagen hat. Aus der Sicht der neueren (konventionellen) Biologie erscheint das zumindest fraglich. Denn anders als bei der Bühnentechnik ist bei den “technischen” Vorgängen, die dem Pflanzenwachstum zugrundeliegen, keineswegs offenkundig, dass sie etwa dazu dienen, dem Betrachter etwas “vorzuspielen”. Lediglich unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Zuchtwahl Darwins erhält die äussere Erscheinung der Pflanze eine gewisse Bedeutung, wenn sich nämlich plausibel machen lässt, dass ein bestimmter Aspekt dieser Erscheinung einen Vorteil im Kampf ums Dasein bietet.

Goethe wusste kaum etwas von der “Technik” des Pflanzenwachstums, und von Darwins Gedanken der natürlichen Zuchtwahl wusste er noch nichts. Allerdings waren ähnliche Versuche, die Erscheinungen in der Welt der Lebewesen als zu bestimmten Zwecken gebildet zu erklären, auch zu Goethes Zeit längst üblich. Wie das obige Zitat (am Ende des Kapitels zum Darwinismus) zeigt, lehnte er solche Spekulationen grundsätzlich als “nicht wissenschaftlich” ab. Und was er von der Physiologie des Pflanzenwachstums wusste, fügte er an seine morphologischen Beobachtungen an, ohne sich dadurch von diesen ablenken oder gar abbringen zu lassen. Es war also nicht mangelndes Wissen, das Goethe dazu bewog, die unmittelbare Erscheinung der Pflanzen zu verfolgen, anstatt nach dahinterliegenden Gründen zu suchen.

“Man suche nur nichts hinter den Phänomenen; sie selbst sind die Lehre.” Aus diesen Worten Goethes spricht die Erfahrung einer befriedigenden Erkenntnis ohne den Sprung zu vermeintlichen Erklärungen, die hinter den Phänomenen stehend gedacht werden. Manche Aspekte der Pflanzengestalt, -färbung usw. mögen plausibel erscheinen, wenn wir sie uns irgendwie im Kampf ums Dasein entstanden denken. Aber diese “Erklärungsweise” wird immer spekulativ bleiben müssen. Andererseits mag die Forschung im Bereich der pflanzlichen Physiologie bis hin zur molekularen Genetik gerade in den letzten Jahrzehnten immer genauer aufklären, wie die Teile der Pflanze gerade so und nicht anders gebildet werden. Aber auf diese Weise wird nur erforscht, wie die Erscheinungen technisch zustande kommen. Die Morphologie wird durch solche Forschungen nur ergänzt, nicht ersetzt.

Wer so von der Technik hinter den Kulissen begeistert ist, dass ihn sonst nichts mehr wirklich interessiert, der mag sich damit begnügen. Und wer lieber über Selektionsvorteile in einem hypothetischen Kampf ums Dasein vor Millionen von Jahren spekuliert, anstatt sich den heute lebenden Pflanzen mit offenem Interesse zuzuwenden, dem sei auch das gegönnt. “Ein Kerl, der spekuliert, ist wie ein Tier auf dürrer Heide, und rings umher ist fette Weide.” (Ebenfalls Goethe, hoffentlich korrekt aus der Erinnerung wiedergegeben.)

Nach Goethes Tod wurde die Morphologe bald stark formalisiert. Dadurch mag sie heute “wissenschaftlicher” erscheinen als in der Form, die ihr Goethe gegeben hatte. Aber sie wurde auch schwerer zugänglich, und speziell die qualitativen Aspekte, auf die Goethe besonderen Wert gelegt hatte, wurden ausgemerzt. Einen anderen Weg gingen die Goetheanisten, die innerhalb anthroposophischer Kreise, durch Rudolf Steiner angeregt, an Goethe anknüpfen wollten. Sie lieferten einige bedeutende Weiterentwicklungen des Goetheschen Ansatzes. Leider sind diese Arbeiten aber auch vielfach durchsetzt mit Anleihen aus Steiners Anthroposophie, - methodisch ein Rückfall in die Zeit vor Goethe, als es noch üblich war, in “wissenschaftlichen” Arbeiten auf Offenbarungsliteratur wie die Bibel Bezug zu nehmen. Dazu kommen Analogien nach Art der spekulativen Naturphilosophie der Goethezeit.

So gibt es heute im Prinzip drei verschiedene literarische Zugänge zu “Goethes Botanik”:

  • Goethes eigene Schriften, insbesondere Die Metamorphose der Pflanzen (1790), im Buchhandel erhältlich als Einzelausgabe mit einer Einleitung und Kommentaren von Rudolf Steiner (1891), ohne Kommentare und ohne Illustrationen auch online.
  • Neuere Fachliteratur der Vergleichenden Morphologie konventioneller Prägung, in der nur gewisse Aspekte von Goethes Ansatz übernommen und weiter entwickelt wurden. Hierzu wäre auch die wissenschaftshistorische Literatur zu rechnen, soweit sie auf dem Boden der konventionellen Botanik steht.
  • Goetheanistisch-botanische Literatur aus dem Umfeld der Anthroposophie. Zur Einführung besonders zu empfehlen ist die Aufsatzsammlung Goetheanistische Naturwissenschaft, Band 2: Botanik, herausgegeben von Wolfgang Schad (1982). Weitere Beispiele finden sich in der Literatur-Liste von Markus Hari.

Hier ging es nur darum, den wissenschaftshistorischen Rahmen darzustellen. Wünschenswert wäre aus meiner Sicht eine zeitgemäß kommentierte und erläuterte Ausgabe der Metamorphose der Pflanzen, die weder dem Reduktionismus und der darwinistischen Spekulation verfällt, noch ins Anthroposophische abgleitet. Die Steinersche Ausgabe ist halt schon über hundert Jahre alt, und man merkt, dass Steiners Interesse nicht so sehr der Botanik galt. Zu wünschen wäre ausserdem eine kritische Sichtung der goetheanistisch-botanischen Literatur, besonders im Hinblick darauf, was davon methodisch an Goethe anknüpft, was eher als Exegese anthroposophischer “Mitteilungen” zu betrachten ist und was als naturphilosophische Spekulation einzuordnen wäre. Ich hoffe, in absehbarer Zeit hier Einiges dazu beitragen zu können.

 

Copyright  Klaus Frisch 2004

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