Grohmanns

Gerbert Grohmanns “Die Pflanze”

Eine kritische Würdigung eines Klassikers

 

Ein Botaniker, der recht früh im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss Rudolf Steiners in eigenständiger Weise an die Arbeiten Goethes anknüpfte, war Gerbert Grohmann (1897-1957). Er entwickelte einen Zugang zum “Wesen” der Pflanze, wie er es nannte, in den nichts von dem Formalismus, der Abstraktheit und dem Materialismus einfloss, die sich seit Goethe in der schulwissenschaftlichen Botanik breitgemacht hatten. (Vgl. meinen Aufsatz über den wissenschaftshistorischen Kontext der botanischen Arbeiten Goethes.)

Da Grohmanns Publikationen zudem sehr allgemeinverständlich gehalten sind, eignen sie sich als Einführung in eine goetheanistische Botanik weit besser als die diesbezüglichen Texte Goethes, welche nach rund 200 Jahren keine leichte Lektüre mehr sind.

Allerdings schrieb Grohmann selbst durchaus zutreffend, dass er wesentlich mehr durch die “Forschungen” Steiners beeinflusst war als durch das methodische Vorbild Goethes. Und Grohmanns Schriften lassen deutlich erkennen, dass er mit “Forschungen” nicht etwa die erkenntniswissenschaftlichen Untersuchungen Steiners meinte, die man als erkenntnistheoretische Grundlegung eines Goetheanismus betrachten kann, sondern Steiners Anthroposophie.

Tatsächlich vermengt sich in Grohmanns botanischen Arbeiten immer wieder eine in sehr schöner Weise an Goethe anknüpfende empirische Botanik mit einer Exegese vager Andeutungen Steiners. Das ist sehr problematisch, - jedenfalls in der Weise, wie Grohmann es überwiegend macht. Man könnte die von Grohmann aufgegriffenen Andeutungen Steiners als Anregungen für streng empirische Forschungen auffassen, und so waren sie meinem Verständnis nach auch von Steiner gemeint. (Für ein anderes Fachgebiet habe ich das einmal gründlich nachgewiesen.) Grohmann aber führt sie zumeist als Offenbarungen ein, von deren unbedingter Wahrheit er sich überzeugt zu haben meint, ohne dies aber dem zweifelnden Leser plausibel machen zu können.

Trotz dieses Mankos halte ich Grohmanns Werke für sehr wertvoll und für noch heute lesenswert. Grohmann war ein Pionier. Wie er Goethes Methode in der Botanik wieder aufgriff und anschaulich vermittelte, war wegweisend und ist bis heute kaum übertroffen. Was er aufgrund zahlreicher Anregungen Steiners darüber hinaus an Ideengebäuden entwarf, mag zu weiten Teilen wissenschaftlich nicht haltbar sein. Wie er es aber zugleich verstand, manche dieser Anregungen in Fragen an die naturwissenschaftliche Empirie zu übersetzen und als solche zu beantworten, ist bemerkenswert.

Ich beschränke mich hier auf eine nähere Besprechung von Grohmanns Hauptwerk “Die Pflanze - ein Weg zum Verständnis ihres Wesens”. Es erschien in der letzten noch von Grohmann bearbeiteten und stark erweiterten Ausgabe in zwei Bänden 1948 und 1951. (Seither wurde es mehrfach nachgedruckt.)

 

Ein verheissungsvoller Einstieg

“Was uns die Pflanze am allermeisten als Pflanze kennzeichnet, ist das grüne Blatt.” Mit diesen Worten knüpft Grohmann gleich ganz zu Anfang bei Goethe an, der sich in seiner “Metamorphose der Pflanzen” (1790) fast völlig auf eine Betrachtung der Blätter beschränkt hatte. Aber Grohmann korrigiert diese Einseitigkeit sogleich, indem er auch den Stengel, an welchem das Blatt sitzt, mit in die Betrachtung einbezieht und drittens noch den Knoten, die Ansatzstelle des Blattes am Stengel, unterscheidet: “Blatt, Knoten und das dazugehörige Stengelstück bilden die Ureinheit, aus welcher alle Pflanzen letzten Endes aufgebaut sind.”

Die drei Elemente dieser Ureinheit charakterisiert Grohmann nun weiter, indem er in ihnen die primären Elemente der Geometrie wiedererkennt: Punkt, Gerade und Ebene, - oder mehr umgangssprachlich: Punkt, Linie und Fläche. Das könnte an mancherlei Irrwege der Naturphilosophie zu Zeiten Goethes erinnern (vgl. den schon erwähnten Beitrag über den wissenschaftshistorischen Kontext). Aber Grohmann konstatiert lediglich, dass der Stengel linienförmig, das Blatt flächig und der Knoten (annähernd) punktförmig ist, ohne das besonders hervorzuheben oder gar etwas daraus abzuleiten. Der Leser kann mit Grohmann die Elemente der Geometrie in der Gestalt der Pflanze wiedererkennen, ohne dass ihm irgendwelche daran anknüpfende Spekulationen zugemutet werden.

Stattdessen beschreibt Grohmann kurz und prägnant, wie diese Elemente sich in den dreidimensionalen Raum einfügen: Der Stengel strahlt von der Erde aus - und der Sonne entgegen (oder genauer: dem Sonnenlicht, das zu großen Teilen indirekt aus anderen Richtungen einstrahlt). Die Blattfläche richtet sich ebenfalls nach dem Sonnenlicht aus. Der Knoten mit dem in der Blattachsel sitzenden Auge ist der Punkt, aus dem ein neuer Seitentrieb der Pflanze hervorgehen kann und der somit “alles Künftige als Möglichkeit, Kraft und Anlage in sich trägt”.

Bis hierher handelt es sich um einen geradezu vorbildlichen Einstieg in eine goetheanistische Botanik. Eine Einseitigkeit der Goetheschen Betrachtungen wird ohne viel Aufhebens gleich zu Beginn überwunden. Es werden ideelle Bezüge zur Geometrie aufgezeigt, ohne auch nur ansatzweise in idealistische Spekulationen abzugleiten, und die Geometrie wird zu Hilfe genommen, um Bezüge zur räumlichen Umgebung zu bemerken.

Leider hält Grohmann dieses hohe Niveau nicht durch. Schon mit seinem nächstfolgenden Satz verlässt er es: “Die Fähigkeit, sich aus sich selbst zu erneuern, sich im rhythmischen Wechsel auszudehnen, zusammenzuziehen und wieder auszudehnen, ist die wichtigste Eigenschaft des rein Pflanzlichen, und wer den Stengel mit seinen Knoten sowie Blatt und Auge verfolgt, lauscht hinein in die Bildegeheimnisse des vegetativen Lebens.” So ein Satz könnte - wie in ähnlicher Weise bei Goethe - am Ende einer Abhandlung stehen, in der er als Ergebnis entwickelt wurde. Aber Grohmann stellt ihn an den Anfang, und er formuliert ihn im Stil einer Offenbarung. Wer Grohmanns erklärtermaßen wichtigsten “theoretischen” Hintergrund, Steiners Anthroposophie, kennt, der wird sowohl den Stil als auch den Inhalt wiedererkennen.

Für gläubige Anhänger der Anthroposophie ist das kein Problem. Ihnen serviert Grohmann eine Botanik, die sich bequem in ihr Weltbild integrieren lässt. Aber Grohmann zeigt an vielen Stellen, dass er gerne ein viel breiteres Publikum angesprochen hätte. Leider scheint ihm gar nicht klar geworden zu sein, wie sehr er das durch seine kritiklos-gläubige Haltung gegenüber der Anthroposophie selber vereitelte.

Ich möchte hier Grohmanns Versuch unterstützen, eine breitere Leserschaft zu erreichen. Denn was er selber entwickelte, ist für Alle lesenswert, die sich für Pflanzen interessieren und mit den herkömmlichen Betrachtungsweisen nicht zufrieden sind. Auf diese Glanzstücke werde ich hier nur kurz hinweisen, - man lese sie bei Grohmann selber nach. Was bisher - 75 Jahre nach dem Erscheinen der Erstauflage! - fehlt, ist ein kritischer Kommentar. Einen solchen möchte ich hier geben, gerade auch als Lesehilfe für diejenigen, die keine gläubigen Anthroposophen sind.

 

Betrachtung der Wurzel

Ein weiterer Fortschritt gegenüber Goethe ist, dass Grohmann sich dezidiert der Wurzel zuwendet, für die sich Goethe gar nicht erwärmen konnte. Hierzu findet er einige sehr treffende Formulierungen: “...sie flieht das Licht und strebt der dunklen Feuchte zu.” - “Durch ihre Wurzel löst sich die Pflanze gleichsam in die Erde hinein auf, mit dieser verschmelzend.” - “Es sind aber nur die zartesten, äussersten Wurzelendigungen, welche die wichtige Funktion ausüben, das Wasser und die darin gelösten Salze aufzunehmen. (...) Die Gesamtheit dieser zarten Endigungen bildet das eigentliche lebendige Wurzelgebiet.”

Doch dann verfällt Grohmann in ein Analogisieren, ganz nach Art der spekulativen Naturphilosophie der Goethezeit: “Der Stengel sprießt radial dem Sonnenlichte entgegen, die Wurzel aber breitet sich sphärisch im Erdboden aus. (...) Sie folgt der Formtendenz des Wassertropfens, während der linienförmige Stengel wie ein von der Erde zurückgespiegelter, lebendiger Sonnenstrahl aufzufassen ist. In der Wurzel ist die Pflanze irdisch, im Stengel kosmisch (...). Durch ihre Verhärtungstendenz ist die Wurzel dem Mineralischen verwandt.”

Auch hier gilt wieder: Solche Sätze könnten berechtigterweise (allenfalls) am Ende einer Abhandlung stehen, als bildhafte Formulierungen des Ergebnisses. So ist es zwar eine zutreffende Beobachtung, dass wachsende Wurzelspitzen viel schneller “verhärten” als oberirdische Sprosse. Aber ob das irgendetwas mit den Qualitäten des Mineralischen zu tun hat, kann zunächst allenfalls als Frage auftauchen. Ebenso könnte man beim oberirdischen Stengel fragen, ob und inwiefern seine räumliche Orientierung etwas mit dem Sonnenlicht zu tun hat. Man würde dann finden, dass junge, noch wachsende Stengelbereiche sich gewöhnlich nach dem Licht orientieren, während ältere sich nach der Schwerkraft richten. Wirklich nur nach dem Licht richten sich die Blattflächen, und diese bilden, wie Grohmann selbst später (S. 54) anführt, eine Sphäre - wenn man sie über die ganze Erde hin zusammenfasst.

Grohmanns bildhafter Vergleich lässt sich also ebenso gut umkehren. Was er (am deutlichsten auf S. 54) als “wiedergespiegelten Sonnenstrahl” auffasst, das ist gerade derjenige Teil der oberirdischen Pflanze, in welchem diese sich am stärksten mit der irdischen Schwerkraft auseinandersetzt. Wo sie sich ganz dem Licht zuwendet, da bildet sie - global betrachtet - eine Sphäre. Und wo sie sich ganz der Erde zuwendet, in diese hinein auflöst, wie Grohmann schreibt, da tritt das flächige Element (Blatt) in der Gestalt ganz zurück; es bleiben nur noch lineare Gestaltelemente übrig.

Solche Analogien, wie Grohmann sie hier verwendet, haben immer etwas Willkürliches. In großem Stil vorgeführt hat das die romantische Naturphilosophie im frühen 19. Jahrhundert. Diese Erfahrung wirkt noch heute negativ nach, indem alles Qualitative aus der “Wissenschaft” ausgegrenzt wird und bildhafte Verleiche verpönt sind. In goetheanistischen Kreisen wurden die Ansätze Grohmanns jedoch in ernsthafter Weise fortgeführt und korrigiert, insbesondere durch Jochen Bockemühl und Thomas Göbel. Hier ging es nur darum, die sorgfältigen Beobachtungen Grohmanns von seinen vorschnellen Analogien abzugrenzen.

 

Blattmetamorphosen

Zu den stärksten Passagen in Grohmanns Buch gehört das Kapitel über die Metamorphose der Laubblätter. Was Goethe nur kurz gestreift hatte und was die konventionelle Botanik nach Goethe als ein Unterscheiden von Blattformen systematisiert und ins Detail getrieben hatte, das griff Grohmann im Goetheschen Sinn wieder auf, indem er die Übergänge von Blatt zu Blatt am Stengel, die Metamorphose, verfolgte.

Natürlich ist Grohmanns zuletzt 1948 bearbeitete Darstellung in manchen Details veraltet. Andere Goetheanisten haben, seinem Beispiel folgend, in neuerer Zeit manches klarer herausgearbeitet. Aber als Einführung in die Betrachtung von Blattmetamorphosen halte ich dieses Kapitel in Grohmanns “Pflanze” bisher für unübertroffen. Bei einer Einführung kommt es ja nicht darauf an, ob in jeder Hinsicht der neueste Stand der Forschung präsentiert wird. Entscheidend ist das Wie der Einführung, und da kann es durchaus von Vorteil sein, wenn der Lehrer selber noch ein Suchender ist.

Grohmann vermittelt durch seine Darstellung die Faszination des Selber-Entdeckens. Er verleitet geradezu zum Hinausgehen auf die Wiese, um seinen Anregungen in der Natur nachzugehen. Und dazu trägt auch die Art der von ihm gebrachten Abbildungen bei: Sie sind weniger abstrahiert als in neueren Publikationen; man kann noch erkennen, wie die Blätter an der Pflanze saßen. Für die Veranschaulichung neuerer Entdeckungen mag es nützlich sein, die Blattformen in anderer Weise anzuordnen; für die Einführung in die Betrachtung der Metamorphose hat Grohmann den geeignetsten Weg gefunden.

Und was bringen diese Betrachtungen? Wofür sollen sie gut sein? Grohmann erläutert es selbst:

“Das Studium von Blattmetamorphosen führt in das Verständnis desjenigen hinein, worauf es bei der Pflanzenwelt letzten Endes ankommt, in das Dynamische. Niemals wird man das Leben begreifen können, wenn man bei der festen Form, beim Gewordenen stehen bleibt, anstatt das Werdende ins Auge zu fassen. Das einzelne Blatt ist nur wie ein Meilenstein auf dem Entwicklungswege der Pflanze, ein gleichsam geronnenes Produkt des im Flusse befindlichen Lebens.”

Im 2. Band der “Pflanze” greift Grohmann das Thema Laubblattmetamorphose nochmals auf und vertieft es. Ausserdem gibt es ein kleines Buch von Grohmann, das sich vorwiegend der Metamorphose von Laubblättern widmet: “Metamorphosen im Pflanzenreich”, erstmals erschienen 1935 und zuletzt nachgedruckt 1990. Dort schreibt der Verfasser im Geleitwort: “Alle diejenigen (...), die das Buch als das nehmen, was es sein will, als eine Übung im Anschauen, werden, wenn sie es gelesen haben, wissen, was gewonnen ist.” Das mag vielleicht arrogant klingen. Aber es gibt wirklich keine bessere Methode, eine unübliche Betrachtungsweise kennen zu lernen, als - sie zu praktizieren.

 

Blume und Insekt

Wie die Pflanze sich durch ihre Wurzel mit dem Mineralischen im Erdboden auseinandersetzt, so wendet sie sich mit der Blüte an die Welt der Insekten. Dieses Thema behandelt Grohmann unter mehreren Gesichtspunkten.

Morphologisch konstatiert er ein “Anklingen” an tierische Bildungen. Allerdings geht er hierbei behutsamer vor als bei der Betrachtung der Wurzel mit ihrem Bezug zum Mineralischen. Nicht in der voll entfalteten Blüte, sondern in der Blütenknospe findet er die qualitativ dem Tierischen am nächsten stehende Bildung: “So lange die Knospe geschlossen ist, birgt sie das Blüteninnere wie ein Geheimnis; eine Geste, welche uns an das tierische Wesen erinnert, wo die Organe ebenfalls dem äusseren Anblick verborgen und in das Körperinnere eingeschlossen bleiben. (...) Aber die flüchtige Hinentwicklung zum Tierverwandten wird von der Pflanze schon im Erblühen wieder rückgängig gemacht: Die zunächst verborgenen Teile treten herrlich hervor, breiten sich aus und bieten sich dem Lichte dar. (...) Sie gliedert sich in den äusseren Lichtraum ein, während das Tier sich in seinem eigenen Innenraum abschließt.”

Diese präzisen qualitativen Formulierungen kann der Leser für sich selbst zur Frage umwenden und mit dieser Frage in die Natur hinausgehen. Vielleicht wird er dann erstmals darauf aufmerksam, dass es gerade die Blütenknospen sind, die auch in ihrer unmittelbaren Erscheinung am stärksten an Insekten erinnern. Bei vielen Pflanzenarten bleibt diese tierartige Physiognomie noch im Erblühen erhalten, indem die Blüten sich nur ein Stück weit öffnen und dabei die Gestalt von Gesichtern oder Mäulern annehmen. Derartige Betrachtungen greift Grohmann dann im zweiten Band wieder auf, wo es um die Vielfalt der Pflanzenarten geht.

Im ersten Band geht er zunächst näher auf die Teile der Blüte ein, wobei er wieder stark an Goethes Metamorphose-Gedanken anknüpft. Danach kommt er erneut auf das Verhältnis zu den Insekten zu sprechen, jetzt aber den Vergleich auf die ganze Pflanze ausdehnend: Wie die Pflanze aus dem Samenkorn sprießt, zahlreiche grüne Blätter bildet, dann eine geschlossene Knospe hervorbringt, aus welcher sich schließlich die Blüte entfaltet, so schlüpft die Schmetterlingsraupe aus dem Ei, wächst als langgestreckte, vielgliedrige Raupe an den Laubblättern der Wirtspflanze heran, schließt sich dann in der Puppenhülle ein, bis aus dieser der Falter kriecht und sich wie eine Blüte entfaltet. Eine Analogie, zweifellos.

Aber Grohmann geht noch weiter. Er behauptet, dass “diese einzigartige Übereinstimmung, besonders aber das Zusammenpassen der Blüten und der dazugehörigen Insekten” nur dadurch befriedigend verstanden werden könne, dass man einen Gedanken aus Steiners Anthroposophie hinzunimmt. Demnach seien Pflanzen und Tiere “in früheren Erdperioden” einmal aus einem “Zwischenreich” hervorgegangen, dessen Angehörige “die Eigenschaften unserer heutigen Pflanzen mit denjenigen von Tieren in sich vereinigten”. Diese gemeinsame Abstammung sei der Grund für die geschilderten Ähnlichkeiten von Pflanzen und Insekten und für ihr “Zusammenpassen”.

Damit verlässt Grohmann völlig den Boden einer naturwissenschaftlichen Betrachtung. Nicht ohne Grund bleibt sehr vage, in welcher geologischen Epoche man sich denn diese “früheren Erdperioden” zu denken habe. Wie spätestens am Ende des ersten Bandes deutlich wird, meint Grohmann damit nämlich gar keine geologischen Zeiträume. Und ebenso denkt er das angedeutete “Zwischenreich” nicht in so einem Sinn, dass man etwa nach entsprechenden Fossilien in alten Sedimenten suchen solle. So waren auch Steiners Ausführungen, auf die sich Grohmann hier bezieht, nicht gemeint. Wie sie aber gemeint waren und wie Grohmann sie interpretierend aufgreift, das bleibt an dieser Stelle (S. 45) ganz im Unklaren.

Umso befremdlicher ist es, wenn Grohmann begeistert schreibt, Steiner habe hiermit eine Lösung gebracht, “welche an Überzeugungskraft nichts zu wünschen übriglässt und welche auch mit dem gesunden menschlichen Empfinden vollkommen übereinstimmt. Selbst wer sich sonst auf geisteswissenschaftliche [= anthroposophische] Forschungesergebnisse nicht einlassen möchte, wird doch zugeben müssen, dass einleuchtendere Ideen über Blumen und Insekten wohl kaum zu finden sein dürften.” Das ist eine der Stellen in Grohmanns Werk, wo besonders deutlich wird, dass er zwar auch Nicht-Anthroposophen ansprechen wollte, aber völlig ausserstande war, sich in deren Perspektive hineinzuversetzen. Wer nicht bereits mit Steiners komplizierten Darstellungen der “Weltentwicklung” vertraut ist und/oder nicht von deren “Richtigkeit” überzeugt ist, der wird Grohmann keineswegs zustimmen können. Das scheint Grohmann jedoch überhaupt nicht zu bemerken.

Ich kritisiere ausdrücklich nicht, dass Grohmann in seinen botanischen Arbeiten Bezüge zur Anthroposophie herstellt. Das war ja seine schon im Vorwort zu “Die Pflanze” angekündigte Absicht, und das habe auch ich selbst in einigen meiner Publikationen als anthroposophisch orientierter Naturwissenschaftler gemacht. Insofern Anthroposophie mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit auftritt und entsprechend dargestellt ist, kann sie zumindest als Parawissenschaft anerkannt und interdisziplinär herangezogen werden. Für die von Grohmann angesprochenen “früheren Erdperioden” sind diese Voraussetzungen insbesondere durch Steiners Buch “Die Geheimwissenschaft im Umriss” (1910) hinlänglich erfüllt. Aber Grohmann nennt weder dieses Buch noch irgend eine andere Referenz - ausser der Autorität Rudolf Steiners. Und die umfangreichen Erläuterungen Steiners, wie seine Darstellungen zu verstehen seien und wie sie vor allem nicht zu verstehen seien, lässt er völlig beiseite.

So sehr Steiner in seinen Büchern (anders als in vielen Vorträgen, die heute als Mitschriften im Umlauf sind) um ein (para-)wissenschaftliches Niveau bemüht war, so wenig findet sich bei Grohmann davon wieder, wo er Steiner zitiert. Das mindert den Wert der betreffenden Passagen in Grohmanns Buch leider erheblich. In seiner “Philosophie der Freiheit” (1894) schrieb Steiner: “Man muss sich der Idee erlebend gegenüberstellen können; sonst gerät man unter ihre Knechtschaft.” Grohmann wurde offenbar von Steiners Ideen so sehr überwältigt, dass er sich ihnen nicht gegenüberstellen konnte. Dies wollte ich hier am Beispiel “Blume und Insekt” zeigen. Wer selber ein überwältigter Anhänger der Anthroposophie ist, wird damit keine Probleme haben. Die übrigen Leser sollten hingegen geringere Probleme haben, sich den Ausführungen Grohmanns auch da erlebend gegenüberzustellen, wo er Steiner zitiert.

 

Der Baum als aufgestülpte Erde

Bisher habe ich nur ein Achtel von Grohmanns Hauptwerk halbwegs angemessen kommentiert. Das mag als kritische Einführung genügen. Die durchaus beachtlichen und lesenswerten weiteren 350 Seiten überlasse ich dem nun hoffentlich besser gerüsteten Leser zur eigenen Erkundung. Nur einen aus meiner Sicht besonders problematischen Punkt möchte ich noch hervorheben.

Es handelt sich darum, wie Grohmann die Holzgewächse betrachtet. Gegenüber Goethe ist es im Prinzip ein Fortschritt, dass auch verholzende, also ausdauernde Pflanzen in die Betrachtung aufgenommen werden. Denn Goethe beschränkte seine Betrachtung auf einjährige Pflanzen, um bei dem seiner Meinung nach Einfachsten zu beginnen. Leider verzichtet Grohmann an dieser Stelle aber fast völlig auf die fragend-empirische Haltung, die andere Teile seines Werks so wertvoll machen.

Stattdessen greift er einige wenig präzise Äusserungen Steiners auf (die er, wie in allen anderen Fällen auch, nicht nachweist), wonach die Stämme der Bäume als eine Art “aufgestülpte Erde” aufzufassen seien. Was Steiner damit meinte, das wäre eine durchaus interessante Frage. In diesem Zusammenhang wäre auch zu betrachten, was man bei Steiner an botanischen Kenntnissen voraussetzen kann. Aber Grohmann stellt solche Fragen nicht. Er meint zu wissen und zu verstehen, was Steiner meinte, und sieht seine Aufgabe nur noch darin, dieses “Wissen” plausibel zu machen.

Das wäre hier nicht weiter erwähnenswert, wenn es nur ein weiteres Beispiel für Grohmanns kritiklose Gläubigkeit gegenüber Steiners “Offenbarungen” wäre. Aber in diesem Fall steht es noch schlimmer. Denn Grohmann führte, um seine durchaus fragwürdige Auslegung von Steiners “Mitteilung” plausibel zu machen, falsche “Fakten” an, - und seine darauf beruhende Lehrmeinung gilt seither unter goetheanistischen Botanikern und in deren Umfeld als gesichertes Wissen.

So behauptet Grohmann (S. 66), dass die holzigen Teile der Pflanze wesentlich mehr mineralische Asche enthalten würden als die nicht verholzten. Das Gegenteil ist tatsächlich der Fall. Und weiter setzt er “Holz” mit “Zellulose” gleich, was schlicht Unfug ist. Holz enthält zwar immer auch Zellulose, aber was das Holz zum Holz macht, das ist das Lignin, von dem bei Grohmann nirgends die Rede ist. Wie das Lignin als pflanzliche Substanz goetheanistisch zu charakterisieren ist, habe ich in meinem Aufsatz über die Pflanzensubstanzen darzustellen versucht. Mit dem Mineralischen hat es jedenfalls herzlich wenig zu tun.

Genau diese irrige Vorstellung aber, Holz sei eine in besonderem Maße “mineralisierte” pflanzliche Substanz und Bäume seien deshalb besonders stark mit dem Irdisch-Mineralischen verbunden, durchzieht das hieran anknüpfende anthroposophisch-botanische Schrifttum. Das ist weder naturwissenschaftlich noch anthroposophisch (hier als Exegese von Steiners Werken gemeint) haltbar. Trotzdem hat es sich (in meinem langjährigen Versuch) als unmöglich erwiesen, dieses vermeintliche Wissen durch gute Argumente zur Frage zu wenden. Anstelle des von mir bezweifelten Dogmas wurde ich in Frage gestellt - und verworfen.

Die Unbelehrbarkeit und Diskursunfähigkeit der “Anhänger” Grohmanns möchte ich diesem selbst aber nicht ankreiden. Zumal ich niemanden kennen gelernt habe, der sich als gläubiger Verehrer Grohmanns zu erkennen gegeben hätte. Es waren andere Personen, die Grohmanns Meinung zum Dogma erhoben und entsprechend “verteidigt” haben.

Das wäre (von meinem persönlichen Schicksal abgesehen) nicht weiter schlimm, wenn die anthroposophisch-goetheanistische Botanik nicht seit Jahrzehnten als Begründung dafür heran gezogen werden würde, warum diverse “anthroposophische Heilmittel” gewisse Wirkungen haben sollen. Da geht es um viele leidende, teils sogar lebensbedrohlich kranke Menschen, denen verblendete “anthroposophische” Ärzte Medikamente verordnen, von deren erhoffter Wirkung sie sich Vorstellungen machen, in welche Grohmanns “Verständnis” des Baumes vielfach einfließt. Selbst sehr wohlwollende Anhänger der anthroposophischen Medizin sollten hier hellhörig werden.

Hiermit beende ich meinen Kommentar zu Grohmann. Ein Fazit möge sich jede(r) Leser(in) selber bilden, und zwar nach der Lektüre von Grohmanns “Pflanze”.

Letzte Änderungen auf dieser Seite: 21. 8. 2004

Copyright Klaus Frisch 2004

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