In seinem sehr lesenswerten (und besonders Insidern zu empfehlenden!) Artikel “Anthroposophische Mythologeme” bezeichnet Lorenzo Ravagli mit dem Wort “Mythologem” solche Anschauungen oder Theorien, “die, mögen sie auch im aufgeklärten Gewande der Wissenschaftlichkeit einhergehen, sich insgeheim aus irrationalen Quellen speisen”.

Insofern Goetheanismus hauptsächlich in anthroposophischen Zusammenhängen betrieben wird, unterliegt er den selben sozialen Bedingungen wie die Anthroposophie, welche die Ausbildung und Erhaltung von Mythologemen sehr begünstigen (vgl. vorige Seite).

An dieser Stelle möchte ich in loser Folge einige dieser goetheanistischen Mythologeme besprechen. Den Anfang macht aus gegebenem Anlaß der angebliche Mondrhythmus der Geburtenrate des Menschen:

Es ist ein verbreiteter Volksglaube, daß die Mondphasen einen Einfluß auf die Geburtenrate haben. Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Frage nach einem derartigen Zusammenhang auch in diversen wissenschaftlichen Untersuchungen geprüft. Einen kritisch bewertenden Überblick über diese Arbeiten gibt der Aufsatz “Geburtshelfer Mond? Zum paranormalen Überzeugungssystem des Lunatismus und seiner kritischen Überprüfung” von Edgar Wunder in der Zeitschrift “Skeptiker” (Bd. 8, 1995, S. 7-14). Es ist interessant, diesen Artikel mit dem thematisch entsprechenden Passus in dem 1997 erschienenen Buch “Biologie des Mondes - Mondperiodik und Lebensrhythmen” meiner früheren Kollegen Klaus-Peter Endres und Wolfgang Schad zu vergleichen.

Wunder kommt zu der zusammenfassenden Feststellung, “daß eine große Zahl von empirischen Arbeiten aus Dänemark, Deutschland, Frankreich, Japan, Kanada, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Schweden, der Schweiz und den USA keinen Spielraum mehr für angebliche Mondeinflüsse auf die Geburtenrate zu lassen scheinen. Der weit überwiegende Teil der Studien fand keinerlei Hinweise auf eine Bedeutung weder des tropischen, siderischen, synodischen oder eines anderen Mondzyklus. Die wenigen Studien mit abweichenden Ergebnissen sind meist methodisch zweifelhaft und widersprechen sich hinsichtlich der angeblich relevanten Mondphase gegenseitig.”

Auch Endres und Schad gestehen ein, daß die Forschung “recht unterschiedliche Ergebnisse” erbrachte (S. 126), und sie führen dafür ein paar Beispiele an. Außerdem zitieren sie einen Review-Artikel von 1988, wonach “der weitaus größere Teil der Ergebnisse [aus 21 Studien in einem Zeitraum von 50 Jahren] nicht für einen Zusammenhang von Geburtenrate und Mondphase spricht. Die wenigen positiven Studien widersprechen in ihren Ergebnissen einander”.

In beiden Arbeiten (Wunder wie Endres/Schad) wird also scheinbar der selbe Stand der Forschung konstatiert. Aber welche Folgerungen werden daraus gezogen? Wunder sieht nach einer kritischen und differenzierten Überprüfung “keinen Spielraum mehr für angebliche Mondeinflüsse auf die Geburtenrate” und stellt deshalb als Ergebnis heraus, “daß in Wirklichkeit keine Zusammenhänge zwischen Geburtenrate und Mondphasen (oder anderen Mondzyklen) bestehen”. Dagegen Endres/Schad: “Insgesamt wird daran ersichtlich, daß man ein einzelnes Ergebnis nicht beliebig verallgemeinern darf, sondern in seinem geographischen und gesellschaftlichen Kontext sehen muß.” Eine bemerkenswerte Diskrepanz!

Was Endres und Schad mit dem “geographischen und gesellschaftlichen Kontext” meinen, wird nicht weiter erläutert. Die Autoren wechseln das Thema und kommen lediglich drei Seiten später noch einmal darauf zurück, indem sie darüber spekulieren, daß der Mondrhythmus vielleicht bei der naturverbunden Schwarzwaldbevölkerung der 20er und 30er Jahre noch vorhanden gewesen sein könnte, während er bei der Stadtbevölkerung schon verloren gegangen war. Mit dieser Hilfshypothese ließe sich vielleicht erklären, warum die positiven Ergebnisse in der Dissertation des Anthroposophen Walter Bühler (“Über Mondenwirksamkeiten in der Nativität”, Freiburg 1940) bei späteren Untersuchungen nicht bestätigt werden konnten. Nicht erwähnt wird dabei, daß Bühlers Ergebnisse selbst bei späteren Überprüfungen als statistisch nicht signifikant und in ihren Schlußfolgerungen unhaltbar angesehen wurden und deshalb keinen Eingang in die ernsthafte wissenschaftliche Literatur fanden (siehe Wunder, a.a.O.).

Aber auch die Hilfshypothese läßt sich empirisch prüfen, wie Wunder im zweiten Teil seines Aufsatzes (“Weitere schlechte Nachrichten für Mondgläubige”, a.a.O., S. 51-57) zeigt, indem er Daten aus ländlichen Gebieten in Afrika sowie ältere Daten aus Frankreich, die bis ins Jahr 1800 zurückreichen, mit hinzunimmt. Wunder kommt zu dem klaren Ergebnis, daß die “Verstädterungs”-Hypothese nicht haltbar ist. Einen entsprechenden Prüfungsversuch sucht man bei Endres & Schad vergeblich.

Ebenso ließe sich die von diesen Autoren nur angedeutete geographische Hilfshypothese durch Auswertung der vorhandenen Daten überprüfen. Die Autoren suggerieren jedoch lediglich ein Vorhandensein geographischer Unterschiede, indem sie zur Illustration der Verschiedenheit der Ergebnisse einzelner Studien zwei einander etwa bestätigende Beispiele aus New York anführen und diesen eine Arbeit aus Frankreich mit abweichendem Ergebnis gegenüberstellen, woraufhin sie es als “ersichtlich” bezeichnen, daß man die Ergebnisse verschiedener Studien in ihrem jeweiligen geographischen Kontext betrachten müsse. Letzteres ist jedoch keineswegs ersichtlich, wenn man dem Aufsatz von Wunder entnommen hat, daß aus New York insgesamt fünf Studien vorliegen, die zwar jeweils minimale Abweichungen von einer Zufallsverteilung ergaben, welche jedoch jedesmal eine andere Phasenlage aufwiesen. Demnach sind die Widersprüche zwischen den insgesamt sowieso seltenen und sehr geringen positiven Ergebnissen also auch mit der geographischen Hilfshypothese nicht wegzuerklären.

Ersichtlich ist aber etwas anderes: Während Wunder wirklich der Frage nachgeht, ob ein Zusammenhang zwischen der Geburtenrate und den Mondphasen besteht, suchen Endres & Schad nur nach Belegen für diesen vermuteten (oder gar als gegeben vorausgesetzten) Zusammenhang, ohne dabei für die Möglichkeit offen zu sein, daß dieser Zusammenhang vielleicht gar nicht existiert.

Diese “Blindheit” für negative Befunde ist im real existierenden Goetheanismus leider sehr häufig anzutreffen, und er ist auch für das sonstige anthroposophische “Geistesleben” charakteristisch. Auf der nächsten Seite beschreibe ich ein weiteres Beispiel, danach ein drittes.

Geschrieben am 19. 2. 2002, nachdem ich beim Frühstück “zufällig” den Aufsatz von Edgar Wunder in die Hände bekam. Hierfür meinen Dank an Rüdiger Plantiko, dem dieser “Zufall” zu verdanken ist. Und einen besonderen Dank an Edgar Wunder für diese m.E. gediegene und jedenfalls erhellende Fleißarbeit, die vermutlich rein ehrenamtlich entstand. Außerdem danke ich meinen Ex-Kollegen Endres und/oder Schad für die freundliche Überlassung eines Exemplars ihrer Publikation. Und ich möchte des weiteren erwähnen, daß Wunder auf der Website des Vereins Forum Parawissenschaften trotz der durchaus angebrachten Kritik in einzelnen Punkten dieses Buch vorbehaltlos als die Empfehlung zum Thema “Mondeinflüsse auf Lebewesen” anführt. Dem wollte ich hier nicht widersprechen.

Letzte Änderung auf dieser Seite (Link hinzugefügt): 22. 12. 2003

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