Nicht-zufällige Segregation, Teil I

Teil I: Eine kurze historische Einführung

 

Die Chromosomen-Theorie der Vererbung wurde in den Jahren 1902 bis 1904 durch Theodor Boveri, Walter Sutton u.a. formuliert. Sie war eine Synthese der erstmals 1866 von Gregor Mendel beschriebenen und im Jahr 1900 “wiederentdeckten” Regeln der Vererbung mit neuesten mikroskopischen Untersuchungen an Chromosomen.

Link: Ein Beitrag über die Chromosomentheorie der Vererbung von Ingo Gödeke

Diese Theorie implizierte u.a., daß sich bei der Meiose homologe Chromosomen paaren und daß die Paarungspartner dann zufällig auf die beiden Tochterzellen verteilt werden. Das folgte aus der von Mendel und seinen Wiederentdeckern beschriebenen Art und Weise, wie Merkmale von Generation zu Generation weitergegeben werden, in Verbindung mit der plausiblen Annahme, daß die Chromosomen die materiellen Träger oder Determinatoren dieser Merkmale seien. Wirklich beobachtet war die Zufälligkeit auf der Ebene der Chromosomen zu diesem Zeitpunkt nicht. Sie war auch gar nicht beobachtbar, denn man konnte homologe Chromosomen normalerweise nicht voneinander unterscheiden.

Erste mikroskopisch-zytologische Untersuchungen zur Frage der Zufälligkeit erschienen dann 1908 und 1909. Diese Arbeiten betrafen die Spermatogenese (Meiose im männlichen Geschlecht) bei verschiedenen Blattlaus-Arten. Blattlaus-Männchen haben gewöhnlich nur ein Geschlechts-Chromosom, zu dem es keinen homologen Paarungspartner gibt. Eine weitere Besonderheit ist, daß die Meiose inäqual erfolgt, d.h. die beiden Tochterzellen der Reduktionsteilung sind verschieden groß. Das Ergebnis dieser Untersuchungen war nun übereinstimmend, daß das Geschlechts-Chromosom (X-Chromosom) immer in die größere Tochterzelle gelangt. Und nur aus dieser gehen dann Spermien hervor - mit dem Effekt, daß jedes Spermium ein X-Chromosom erhält und nicht nur die Hälfte von ihnen, wie bei zufälliger Verteilung zu erwarten wäre. (Diese Arbeiten sind zusammenfassend referiert bei Schwartz 1932).

Ebenfalls schon 1909 erschien eine Arbeit über die Spermatogenese der Saumwanze, Syromastes marginatus. Da sind zwar zwei Geschlechts-Chromosomen vorhanden, aber diese werden nicht zufällig auf die beiden Pole der Kernteilungs-Spindel verteilt, sondern wandern beide zum selben Pol und gelangen dadurch beide in die selbe Tochterzelle. Ganz ebenso ist es generell bei der Spermatogenese von Spinnen, wie 1914 eine Untersuchung an elf Spinnen-Familien zeigte. Desgleichen bei Blattlaus-Männchen, wenn diese entgegen der Regel zwei Geschlechts-Chromosomen haben, sowie bei verschiedenen Fadenwürmern (Nematoden), die in den folgenden Jahren untersucht wurden. (Siehe hierzu White 1940 sowie Morgan 1915.)

Einen komplizierteren Fall beschrieb Payne 1916 bei der Maulwurfsgrille Neocurtilla hexadactyla. Bei dieser Art haben die Männchen drei Geschlechts-Chromosomen, von denen aber nur zwei sich bei der Meiose paaren. Dennoch wandert das ungepaarte dritte Chromosom immer zum selben Spindelpol wie das größere der beiden gepaarten Geschlechts-Chromosomen. (Literatur-Empfehlung hierzu: Kubai & Wise 1981)

Kurz darauf (1917) erschien allerdings - in der selben Zeitschrift wie Paynes Arbeit über die Maulwurfsgrille - der erste Nachweis einer zufälligen Verteilung von Chromosomen bei der Meiose. Diese theoretisch erwartete Zufälligkeit avancierte schnell zur “gesicherten Wahrheit”, während Paynes ebenso prominent publizierte Darstellung der davon abweichenden Verhältnisse bei der Maulwurfsgrille über 50 Jahre lang keine weitere Beachtung fand, bis sie 1968 von Camenzind & Nicklas aufgegriffen, bestätigt und durch weitergehende Untersuchungen ergänzt wurde.

Ein noch erstaunlicheres Beispiel für nicht-zufällige Segregation von Chromosomen wurde in den 20er und 30er Jahren durch Charles Metz und Mitarbeiter bei den Trauermücken (Sciaridae) gründlich untersucht und publiziert (Zusammenfassung bei Metz 1938). Da geschieht regelmäßig genau das Gegenteil dessen, was damals wie heute in den Lehrbüchern steht: Die Chromosomen mütterlichen und väterlichen Ursprungs werden nicht zufällig verteilt, sondern fein säuberlich auseinander gehalten und als komplette Sätze an die Nachkommen weitergegeben bzw. von ihnen ferngehalten.

Von derartigen “Anomalien” erfährt ein Biologe im Laufe seines Lebens normalerweise nichts bis sehr wenig. Sollte er ausnahmsweise in der Literatur auf den einen oder anderen “unorthodoxen” Fall stoßen, dann scheint es sich fast durchweg um eine krasse Ausnahme zu handeln. Wie viele Parallelfälle es jeweils gibt, scheint selbst den Forschern auf diesem Gebiet überwiegend nicht bewußt zu sein.

Dem soll dieser Web-Artikel wenigstens im deutschsprachigen Raum abhelfen. (Maybe there will be an English version later.)

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Copyright Klaus Frisch 2001

Literatur:

Camenzind, R. & Nicklas, R.B. 1968: The non-random chromosome segregation in spermatocytes of Gryllotalpa hexadactyla. A micromanipulation analysis. Chromosoma 24: 324-335.

Kubai, D.F. & Wise, D. 1981: Nonrandom chromosome segregation in Neocurtilla (Gryllotalpa) hexadactyla: an ultrastructural study. Journal of Cell Biology 88: 281-293.

Metz, C.W. 1938: Chromosome behavior, inheritance and sex determination in Sciara. American Naturalist 72: 485-520.

Morgan, T.H. 1915: The predetermination of sex in phylloxerans and aphids. Journal of Experimental Zoology 19: 285-321.

Schwartz, H. 1932: Der Chromosomenzyklus von Tetraneura ulmi DE GEER. Zeitschrift für Zellforschung und Mikroskopische Anatomie 15: 645-687.

White, M.J.D. 1940: The origin and evolution of multiple sex-chromosome mechanisms. Journal of Genetics 40: 303-336.

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