![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
![]() |
||||
Steiners Erkenntnistheorie als Beitrag zur theoretischen Begründung des Goetheanismus
Goethe hat sich zwar viel mit Naturforschung befaßt und Vieles darüber geschrieben. Dabei bewegte er auch immer wieder methodische Fragen, so daß recht gut dokumentiert ist, wie er seine Vorgehensweisen für sich selbst und für die Leser begründete. Jedoch war es nicht sein Anliegen, seine Arbeit erkenntnisphilosophisch zu rechtfertigen, indem er sie etwa irgendwie in einen Bezug zu der vielbeachteten “kritischen” Philosophie seines Zeitgenossen Immanuel Kant (1724-1804) gebracht hätte. Da die seitherige Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, ja überhaupt das Selbstverständnis der Wissenschaft seit der Goethezeit, durch Kant stark beeinflußt wurde, kann Goethes Naturforschung und der daran anschließende Goetheanismus aus dieser Perspektive leicht als “vor-kantianisch” naiv erscheinen. Richtiger wäre es allerdings, sie als “nicht-kantianisch” zu bezeichnen. Goethe konnte seine Arbeiten nicht in ein Verhältnis zu Kants Philosophie bringen, weil diese Philosophie - ähnlich wie Newtons Physik, an die Kant vielfach anschloß - von Voraussetzungen ausging, welche Goethe nicht teilte. Oder anders gewendet: Die von Kant begründete Richtung in der Philosophie der Erkenntnis ist mit dem Goetheanismus nicht vereinbar, weil sie nicht voraussetzungslos ist. Wie Goethe die unbegründeten Voraussetzungen in Newtons Lichtlehre aufdeckte und überwand, so erforderte die erkenntnistheoretische Begründung des Goetheanismus eine radikale Kritik an der von Kant ausgehenden “kritischen” Philosophie. Das war der Beitrag Rudolf Steiners (1861-1925). Steiner erhielt gegen Ende seines Studiums (Naturwissenschaften und Mathematik) den Auftrag, Goethes naturwissenschaftliche Schriften neu herauszugeben. In diesem Zusammenhang erarbeitete er eine “Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung”, die 1886 als eigenständiges Büchlein erschien (Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...), die aber auch in knapper Form in seinen Einleitungen zu der Goethe-Ausgabe enthalten war (1887). Es folgte noch eine erweiterte Fassung seiner Dissertation unter dem Titel Wahrheit und Wissenschaft (1892), worin Steiner sich besonders auf die Auseinandersetzung mit Kant konzentrierte, sowie Die Philosophie der Freiheit (1894), sein philosophisches Hauptwerk, dessen erste Hälfte nochmals eine Darstellung seiner Erkenntnistheorie ist. Link: Diese Texte von Steiner online Steiners hauptsächlicher Kritikpunkt gegenüber Kant war ganz ähnlicher Art wie der von Goethe gegenüber Newton. Wie Newton behauptet hatte, daß hinter den Farben, die wir wahrnehmen, “in Wirklichkeit” eine Mechanik unsichtbarer Lichtteilchen verborgen sei, so postulierte Kant generell hinter jeder Wahrnehmung ein nicht wahrnehmbares “Ding an sich”. Was wir wahrnehmen, seien nur unsere subjektiven Vorstellungen. Das ist, wie Steiner bemerkte, eine Voraussetzung, die es zu hinterfragen gilt, wenn unsere Erkenntnistheorie voraussetzungslos sein soll. Der “transzendenten” Weltsicht Kants, welche die eigentliche Wirklichkeit von vornherein in ein unerreichbares Jenseits verlegt, stellte er eine “immanente” entgegen, die sich nur mit dem befaßt, was unserem Bewußtsein zugänglich ist, und die nichts Jenseitiges annimmt, so lange es innerhalb der uns zugänglichen Welt keine deutlichen Hinweise auf ein solches gibt. (Siehe das Kapitel “Goethes Erkenntnistheorie” in den Einleitungen zur Goethe-Ausgabe sowie die “Vorrede” zu Wahrheit und Wissenschaft.) Steiner ging bei seiner Fragestellung also ganz vom erkennenden Subjekt aus. Nur was uns bewußt ist, kann Gegenstand unserer Erkenntnis sein. Dagegen ging der Hauptstrom der Erkenntnis-Philosophie seit Kant immer mehr dazu über, aufgrund der Annahme einer transzendenten “objektiven” Wirklichkeit das “subjektive” menschliche Bewußtsein zu entwerten und schließlich in Karl Poppers “Erkenntnistheorie ohne ein erkennendes Subjekt” (in Objektive Erkenntnis, 1973) ganz von ihm abzusehen. Man muß beide Positionen konsequent einnehmen können, um die Bedeutung von Steiners Ansatz ermessen zu können. In der immanenten Perspektive Steiners ergibt eine vorurteilsfreie Bestandsaufnahme, daß es innerhalb unseres Bewußtseins ein besonderes Element gibt, welches sich dadurch auszeichnet, daß wir es unmittelbarer und genauer kennen können als irgendetwas sonst. Dieses besondere Element ist unser Denken, insofern es wirklich unsere eigene Tätigkeit ist. Alles, was sonst in unser Bewußtsein tritt, seien es Sinneseindrücke, Traumbilder, Gefühle oder was sonst, ist uns in seiner Herkunft und in seinem Zusammenhang untereinander mehr oder weniger rätselhaft. Nur unser eigenes Denken können wir voll durchschauen, wenn wir es wirklich klar und gründlich betätigen. Diesen Unterschied zu bemerken, ist - so Steiner - die allerwichtigste Entdeckung, die der Mensch machen kann (Philosophie der Freiheit, Kap. III). Denn er beobachtet dann etwas, “dessen Hervorbringer er selber ist; er sieht sich nicht einem zunächst fremden Gegenstande, sondern seiner eigenen Tätigkeit gegenüber. Er weiß, wie das zustande kommt, was er beobachtet. Er durchschaut die Verhältnisse und Beziehungen. Es ist ein fester Punkt gewonnen, von dem aus man mit begründeter Hoffnung nach der Erklärung der übrigen Welterscheinungen suchen kann.” Dieser “feste Punkt” ist nur in der immanenten Perspektive zu gewinnen. Und er muß auch in dieser Perspektive erst gewonnen werden. Dem steht - besonders unter Naturwissenschaftlern - das bereits vorhandene (und für sehr sicher gehaltene) “Wissen” entgegen. So können Erkenntnisse der Physik, der Physiologie, der Evolutionstheorie vorausgesetzt werden, bevor überhaupt zur Debatte steht, sich näher mit dem Denken selber zu befassen. Unter solchen Voraussetzungen kommt nur ein Denken über das Denken zustande, und dabei läßt sich ernsthaft kein fester Punkt finden. Um das Denken “nach naturwissenschaftlicher Methode” (Steiner) untersuchen zu können, muß es selber zum Gegenstand der Beobachtung gemacht werden. Dazu müssen wir es zunächst hervorbringen, d.h. wir müssen klar und gründlich denken, bevor wir überhaupt mit der Untersuchung dieses Denkens beginnen können. Worüber wir in diesem Zusammenhang denken, ist ohne Belang. Es kommt nur darauf an, überhaupt Erfahrungen mit dem Denken zu machen. Dann erst kann seine Untersuchung “nach naturwissenschaftlicher Methode” - im Unterschied zum bloßen Denken über das Denken - beginnen. Natürlich hat jeder Naturwissenschaftler jahrzehntelange Erfahrung mit dem Denken. Dieses eigene Denken zum Untersuchungsgegenstand zu machen, ist jedoch noch eine ganz andere Sache. Das überläßt man den Philosophen - und interessiert sich wenig bis gar nicht für ihre Ergebnisse. Wobei die betreffenden Richtungen der Philosophie im 20. Jahrhundert für unser Anliegen hier übrigens zu großen Teilen wenig hilfreich sind, weil z.B. anstelle des Denkens nur die Sprache untersucht wurde (was nicht das selbe ist!) oder weil man sich auf ein streng formalisiertes Denken beschränkte, mit dem man mehr Sicherheit in die Wissenschaft zu bringen hoffte (Wiener Kreis). Es gibt aber eine Berufssparte, die unter Naturwissenschaftlern hohes Ansehen genießt und in der solche Untersuchungen angestellt werden, wie ich sie gerade in Anknüpfung an Steiner forderte. Diese Sparte ist die Mathematik. Mathematiker erforschen ja, was sie selber denkend hervorbringen. Und dabei machen sie genau die Erfahrungen, auf die Steiner im obigen Zitat hinwies (siehe Philip J. Davis und Reuben Hersh: Erfahrung Mathematik, 1985, sowie Barbara Heintz: Die Innenwelt der Mathematik, 2000): Mathematik ist in der immanenten Perspektive - also für den einzelnen Mathematiker - vollkommen durchschaubar, so weit der Mathematiker sie aktuell überschauen kann. Er durchschaut - um Steiners obige Formulierungen aufzugreifen - “die Verhältnisse und Beziehungen”, weil er selber hervorbringt, was er erforscht. Zugleich ist aber - in der immanenten Perspektive! - ganz offenkundig, daß die “Gegenstände” der Mathematik nicht der Willkür dessen entspringen, der sie erdenkt. Der Mathematiker kann sich zwar willkürlich entscheiden, welcher Fragestellung er sich zuwendet, und es hängt von seiner denkerischen Tätigkeit ab, ob er zu Ergebnissen kommt. Welche Ergebnisse er aber erhalten kann, das liegt nicht in seiner Willkür und ist auch nicht zufällig. Der Mathematiker erfährt die Mathematik ihrem Wesen nach als eine “objektive Realität”, die er ebenso hinnehmen muß und objektiv erforschen kann, wie der Geologe eine Gesteinsschichtung erforscht. Er erfährt sie als “objektiv”, obwohl er sie selbst hervorbringt. Und er kann sie vollkommen durchschauen, weil und insofern er sie selbst hervorbringt. Das mathematische Denken genügt sich selbst. Es bedarf keiner anderweitigen Begründung. Das ist der “feste Punkt”, den Steiner meinte, im Beispiel der Mathematik. Die Klarheit, mit der sich mathematische Gesetzmäßigkeiten durchschauen lassen, kann aber auf andere Bereiche der Wirklichkeit ausgedehnt werden, insofern wir erkennen, daß gewisse uns zunächst rätselhafte Erscheinungen offenbar Gesetzmäßigkeiten folgen, welche wir aus der Mathematik kennen. Häufig ist die Übereinstimmung so exakt, daß wir kaum daran zweifeln können, in unserem mathematischen Denken wirklich genau die Gesetzmäßigkeit gefunden zu haben, die den betreffenden Erscheinungen tatsächlich zugrunde liegt. Und auch wenn wir uns später zu einer Korrektur oder Ergänzung veranlaßt sehen, handelt es sich auch dabei oft wieder um eine klar durchschaubare mathematische Gesetzmäßigkeit. Derartige Erfahrungen können dazu veranlassen, nur noch als wirkliche Wissenschaft anzuerkennen, was streng mathematisch ausformuliert ist. Dieses Ideal hat besonders Isaac Newton sehr dezidiert vertreten. Dabei drohen jedoch zwei Mißverständnisse. Das erste betrifft die Bedeutung des mathematischen Formalismus. Gerade unter mathematischen Laien ist die Ansicht weit verbreitet, das Wesentliche an der Mathematik sei die formale Strenge und die Abstraktheit der Formeln. Tatsächlich handelt es sich dabei jedoch nur um Gepflogenheiten, die die Verständigung unter Mathematikern erleichtern sollen. Die “eigentliche” Mathematik findet nicht beim Niederschreiben eines Beweises oder einer Ableitung statt, sondern sie findet dabei nur einen mitteilbaren Niederschlag. Das zweite Mißverständnis ist gravierender. Wer alles nicht mathematisch Formulierte als unwissenschaftlich betrachtet, schließt damit große Teile der erfahrbaren Wirklichkeit von einer wissenschaftlichen Behandlung aus. Denn Mathematik befaßt sich im wesentlichen nur mit Quantitäten und mit räumlichen Verhältnissen. Was weder quantifizierbar noch geometrisch darstellbar ist, entzieht sich ihr mehr oder weniger. Warum sollte es nicht dennoch Gegenstand einer Wissenschaft sein können? Die Erfahrungen, die man mit der Mathematik machen kann, können ein Anlaß sein, überhaupt Vertrauen zu dem menschlichen Denkvermögen zu fassen. Offenbar sind wir imstande, ganz aus unserem eigenen Denken heraus Gesetzmäßigkeiten zu finden, die auch außerhalb unseres Denkens Geltung haben. Insofern das der Fall ist, besteht kein Anlaß, darüber hinaus noch eine unerkennbare Welt der “Dinge an sich” anzunehmen. Wir haben aber auch keinen stichhaltigen Grund, unserem Denken von vornherein nur dann zu trauen, wenn es sich mit Quantitäten oder mit Geometrie befaßt. Das ist nichts weiter als eine historisch bedingte Voreingenommenheit. Die Mathematik scheint innerhalb des menschlichen Denkens eine Sonderrolle einzunehmen, weil sie sich gut formalisieren und damit scheinbar verobjektivieren läßt. Aber das ist, genau betrachtet, nur etwas Sekundäres. Denn zu den Inhalten der Mathematik kommen wir auf keine andere Weise als zu allen anderen Inhalten klaren Denkens: indem wir sie denken und uns als Ergebnisse unseres Denkens vergegenwärtigen. Die gute Formalisierbarkeit der mathematischen Gedanken ist dann allerdings ein praktischer Vorteil, wenn es um die Vermittlung und Verständigung geht. Aber auch wenn wir es nicht mit Quantitäten oder geometrischen Verhältnissen zu tun haben, können wir unsere Gedanken mit der selben Gewissenhaftigkeit und Exaktheit bilden wie in der Mathematik: “Diese Bedächtlichkeit, nur das Nächste ans Nächste zu reihen, oder vielmehr das Nächste aus dem Nächsten zu folgern, haben wir von den Mathematikern zu lernen, und selbst da, wo wir uns keiner Rechnung bedienen, müssen wir immer so zu Werke gehen, als wenn wir dem strengsten Geometer Rechenschaft zu geben schuldig wären. Denn eigentlich ist es die mathematische Methode, welche wegen ihrer Bedächtlichkeit und Reinheit gleich jeden Sprung in der Assertion [Behauptung] offenbart, und ihre Beweise sind eigentlich nur umständliche Ausführungen, daß dasjenige, was in Verbindung vorgebracht wird, schon in seinen einfachen Teilen und in seiner ganzen Folge dagewesen, in seinem ganzen Umfange übersehen und unter allen Bedingungen richtig und unumstößlich erfunden worden.” (Goethe, Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, 1793.) Eine Ausweitung der “mathematischen Methode” auch auf die Betrachtung nicht-quantitativer und nicht-geometrischer Gegenstände - so könnte man also im Sinne dieses Zitats “Goetheanismus” umschreiben. (Siehe auch Louis Locher-Ernst, “Goethes Verhältnis zur Mathematik”, in Mathematik als Vorschule zur Geist-Erkenntnis, 1944.) Nach dem Denken hat sich die philosophische Begründung des Goetheanismus nun ebenso vorurteilsfrei der Sinneswahrnehmung zuzuwenden. Hierbei sind unter Naturwissenschaftlern wiederum ganz entsprechende Vorurteile zu überwinden wie oben in bezug auf das Denken. So gilt es unter Naturwissenschaftlern als “Tatsache”, daß beispielsweise unsere Farbwahrnehmungen nur subjektive Empfindungen sind, denen in der physikalischen “Wirklichkeit” bloße Quantitäten, nämlich Wellenlängen, zugrundeliegen. Zur Begründung dieser Meinung kann jeder Naturwissenschaftler leicht zahlreiche Argumente vorbringen, und es ist schwer bis unmöglich, sie in Zweifel zu ziehen, ohne sich dabei lächerlich zu machen. Dennoch läßt sich einsehen, daß sich diese Meinung nur auf eine Fülle von Vorurteilen stützt. Was allerdings angesichts dieser Fülle kein schnell erledigtes Unterfangen sein kann. Deshalb kann ich hier nur einige Hinweise geben. Auf die Willkürlichkeit der Entscheidung, der Quantität der Wellenlänge innerhalb der Physik einen höheren Grad an Realität zuzuschreiben als der Qualität der Farbempfindung, wurde schon hingewiesen (vgl. vorige Seite). Historisch läßt sich übrigens zeigen, daß es sich dabei um ein Relikt aus der christlichen Dogmatik des Mittelalters handelt (s.u.). Eine andere Kategorie von Argumenten für die prinzipielle Subjektivität der Farbempfindung stützt sich auf Erkenntnisse der Sinnes- und Gehirnphysiologie. Dem ist grundsätzlich entgegenzuhalten, daß die Physiologie über unsere Empfindungen keine Aussagen machen kann, weil sie diese gar nicht zum Gegenstand hat. Sie untersucht physiologische Begleiterscheinungen unserer Empfindungen, ohne konkret sagen zu können, wie beides zusammenhängt. Wie wir Erkenntnisse über unser Denken nicht durch Untersuchung des Gehirns, sondern nur durch denkende Tätigkeit und durch die Besinnung auf diese gewinnen können, so kommen wir auch zu Aussagen über unsere Sinnesempfindungen und über deren Bedeutung nur, indem wir unsere Sinne betätigen und die dabei gemachten Erfahrungen “nach naturwissenschaftlicher Methode” untersuchen, wie es Goethe beispielhaft in Zur Farbenlehre dargestellt hat. Was dabei herauskommen kann oder nicht, hat die Physiologie nicht vorab zu entscheiden. So wenig wie bei der Mathematik, wo sie sich merkwürdigerweise nicht einzumischen wagt. Eine dritte Argumentationsebene betrachtet den Menschen als Ergebnis der biologischen Evolution und versucht von daher eine “Evolutionäre Erkenntnistheorie” abzuleiten. Dieses Unterfangen ist mindestens so spekulativ und unsicher wie das vorige, von der Physiologie ausgehende. Was können wir denn aus biologischer Sicht im Ernst über die Evolution der Sinnesempfindungen und des Denkens wissen? Wir können doch nur auf der Grundlage gewisser theoretischer Annahmen über Faktoren spekulieren, die bei der Evolution der Empfindungen und des Denkens eine Rolle gespielt haben könnten. Vernünftigerweise sollten sich diese Spekulationen dann danach bewerten lassen, wie gut sie das voraussagen, was unser Denken und unser Empfinden heute tatsächlich leisten. Das wäre das übliche Vorgehen, wenn Behauptungen über kausale Faktoren aufgestellt werden. Die Evolutionäre Erkenntnistheorie müßte sich also dem Test stellen, ob sie z.B. die Möglichkeiten und die Tragweite der Mathematik aus den von ihr angenommenen Selektionsfaktoren herleiten kann. So lange sie diesen Test nicht erfolgreich bestanden hat, sollte man ihr nicht zubilligen, darüber zu befinden, wie tragfähig unsere Sinnesempfindungen sein können. Das sollte - wie die Tragfähigkeit des Denkens in der Mathematik - unabhängig erkundet werden. Wie viel Mathematik könnte wohl in einer Gesellschaft entstehen, in der die Gehirnphysiologie und die Evolutionsbiologie als dafür maßgeblich angesehen werden, was der Mensch seinem eigenen Denken zutrauen kann? Glücklicherweise konnte die Mathematik sich längst als anerkannte und eigenständige Wissenschaft etablieren, bevor die Biologie sich anschickte, sich als für solche Fragen zuständig zu erklären. Dagegen bekam die Naturwissenschaft schon früh erhebliche Einschränkungen auferlegt, wie weit sie den menschlichen Sinnen trauen darf. Diese Einschränkungen stützten sich ursprünglich auf das allgemein anerkannte “Wissen”, wie sich das menschliche Erkenntnisvermögen von dem Gottes unterscheidet. So auch noch bei Newton, der die biblische “Offenbarung” als das am besten gesicherte Wissen betrachtete und sich bei der Ausgestaltung seiner Physik von diesem Glauben leiten ließ. Später übernahm ausgerechnet diese Newtonsche Physik die frühere Rolle der Bibel als das am besten gesicherte Wissen und als Vorbild für die anderen Wissenschaften. Daß die darin implizierte Behauptung der prinzipiellen Subjektivität unserer Sinneswahrnehmungen lediglich theologisch begründet war (Johannes Wickert: Isaac Newton, 1983), wurde dabei übersehen und ist bis heute wenig bekannt. Dem allgemeinen Glauben an dieses alte religiöse Dogma hat seine scheinbar unproblematische Einbettung in das neue naturwissenschaftliche Weltbild natürlich gut getan. Aber der Wissenschaft kann es nicht gut tun, wenn es nicht hinterfragt wird. Steiner diskutierte diese Frage u.a. in Kap. IV seiner Philosophie der Freiheit (1894) im Zusammenhang mit damals aktuellen naturwissenschaftlichen und philosophischen Anschauungen. Die Art seines Hinterfragens ist aber auch auf andere Begründungen der angeblich prinzipiellen Subjektivität unserer Wahrnehmungen anwendbar. Ich zitiere eine Passage aus dem genannten Kapitel: “Man geht zunächst von dem aus, was dem naiven Bewußtsein gegeben ist, von dem wahrgenommenen Dinge. Dann zeigt man, daß alles, was an diesem Dinge sich findet, für uns nicht da wäre, wenn wir keine Sinne hätten. Kein Auge: keine Farbe. Also ist die Farbe in dem noch nicht vorhanden, was auf das Auge wirkt. Sie entsteht erst durch die Wechselwirkung des Auges mit dem Gegenstande. Dieser ist also farblos. Aber auch im Auge ist die Farbe nicht vorhanden; denn da ist ein chemischer oder physikalischer Vorgang vorhanden, der erst durch den Nerv zum Gehirn geleitet wird und da einen andern auslöst. Dieser ist noch immer nicht die Farbe. Sie wird erst durch den Hirnprozeß in der Seele hervorgerufen. Da tritt sie mir noch immer nicht ins Bewußtsein, sondern wird erst durch die Seele nach außen an einen Körper verlegt. An diesem glaube ich sie endlich wahrzunehmen. Wir haben einen vollständigen Kreisgang durchgemacht. Wir sind uns eines farbigen Körpers bewußt geworden. Das ist das Erste. Nun hebt die Gedankenoperation an. Wenn ich keine Augen hätte, wäre der Körper für mich farblos. Ich kann die Farbe also nicht in den Körper verlegen. Ich gehe auf die Suche nach ihr. Ich suche sie im Auge: vergebens; im Nerv: vergebens; im Gehirne: ebenso vergebens; in der Seele: hier finde ich sie zwar, aber nicht mit dem Körper verbunden. Den farbigen Körper finde ich erst wieder da, wo ich ausgegangen bin. Der Kreis ist geschlossen. Ich glaube das als Erzeugnis meiner Seele zu erkennen, was der naive Mensch sich als draußen im Raume vorhanden denkt. So lange man dabei stehen bleibt, scheint alles in schönster Ordnung. Aber die Sache muß noch einmal von vorne angefangen werden. Ich habe ja bis jetzt mit einem Dinge gewirtschaftet: mit der äußeren Wahrnehmung, von dem ich früher, als naiver Mensch, eine ganz falsche Ansicht gehabt habe. Ich war der Meinung: sie hätte so, wie ich sie wahrnehme, einen objektiven Bestand. Nun merke ich, daß sie mit meinem Vorstellen verschwindet, daß sie nur eine Modifikation meiner seelischen Zustände ist. Habe ich nun überhaupt noch ein Recht, in meinen Betrachtungen von ihr auszugehen? Kann ich von ihr sagen, daß sie auf meine Seele wirkt? Ich muß von jetzt ab den Tisch, von dem ich früher geglaubt habe, daß er auf mich wirkt und in mir eine Vorstellung von sich hervorbringt, selbst als Vorstellung behandeln. Konsequenterweise sind dann aber auch meine Sinnesorgane und die Vorgänge in ihnen bloß subjektiv. Ich habe kein Recht, von einem wirklichen Auge zu sprechen, sondern nur von meiner Vorstellung des Auges. Ebenso ist es mit der Nervenleitung und dem Gehirnprozeß und nicht weniger mit dem Vorgange in der Seele selbst, durch den aus dem Chaos der mannigfaltigen Empfindungen Dinge aufgebaut werden sollen. Durchlaufe ich unter der Voraussetzung der Richtigkeit des ersten Gedankenkreisganges die Glieder meines Erkenntnisaktes nochmals, so zeigt sich der letztere als ein Gespinst von Vorstellungen, die doch als solche nicht aufeinander wirken können. Ich kann nicht sagen: meine Vorstellung des Gegenstandes wirkt auf meine Vorstellung des Auges, und aus dieser Wechselwirkung geht die Vorstellung der Farbe hervor. Aber ich habe es auch nicht nötig. Denn sobald mir klar ist, daß mir meine Sinnesorgane und deren Tätigkeiten, mein Nerven- und Seelenprozeß auch nur durch die Wahrnehmung gegeben werden können, zeigt sich der geschilderte Gedankengang in seiner vollen Unmöglichkeit.” So weit Steiner in seiner Philosophie der Freiheit. Er nahm an dieser Stelle konkret Bezug auf eine Argumentation des Philosophen Eduard von Hartmann (1842-1906). Aber das aufgedeckte Prinzip findet sich auch bei anderen Begründungen für eine prinzipielle Subjektivität unserer Wahrnehmungen: Man geht von allzu naiven Voraussetzungen aus und denkt die eigene Argumentation nicht konsequent zu Ende. (Eine aktuelle und grundsätzliche Kritik derartiger “naturalistischer” Ansätze in der Erkenntnistheorie findet sich bei Peter Janich: Was ist Erkenntnis? (2000).) Goetheanismus ist nun das “Abenteuer”, von dem vermeintlichen Vorwissen über die Tragweite unseres Denkens und über die Relevanz und Zuverlässigkeit unserer Wahrnehmungen abzusehen und in der immanenten Perspektive (s.o.) zu erkunden, wie weit sich in der uns durch die Wahrnehmung zugänglichen Welt Gesetzmäßigkeiten finden lassen, welche wir in klarem Denken erfassen können. Wenn Goetheanismus auf die hier dargestellte Weise - direkt anknüpfend an Goethe und (den frühen) Steiner - verstanden wird, dann kann jegliche empirische Forschung Beiträge zum Goetheanismus liefern. Es muß dann nur überall das wirklich Empirische herausgeschält und von unbegründeten Voraussetzungen wie auch von voreiligen theoretischen Interpretationen befreit werden. In dieser Perspektive erscheint Goetheanismus nicht als eine Alternative zur Mainstream-Wissenschaft, sondern als eine Art Ideal, dem diese sich annähern kann, insofern sie sich mit der Zeit selbst-kritisch von ihren unbegründeten Voraussetzungen löst und insofern sie sich vermehrt um Besonnenheit und Offenheit in methodischer Hinsicht bemüht, anstatt in Traditionen und Denkgewohnheiten zu erstarren. Wobei zu den abzulegenden “Denkgewohnheiten” allerdings auch bedeutende und einflußreiche Theorien gehören, für die in einer goetheanistischen Wissenschaft deshalb kein Platz ist, weil sie nicht bei dem wirklich Erfahrbaren stehen bleiben, sondern spekulativ darüber hinaus gehen. (Entsprechende Beispiele aus der Physik wurden schon genannt. Auf die Biologie werde ich in einem späteren Beitrag besonders eingehen.) Auf der nächsten Seite gestatte ich mir einige kritische Bemerkungen zum “real existierenden” Goetheanismus. Wer sich näher für die Erkenntnistheorie Rudolf Steiners interessiert, findet auf der Homepage von Michael Muschalle weiterführende, aber auch durchaus anspruchsvolle Sekundärliteratur. (Man sollte wenigstens eines der oben genannten Werke Steiners aufmerksam gelesen haben, um mit Muschalles Arbeiten etwas anfangen zu können.) Letzte Änderungen auf dieser Seite (Links eingefügt): 9. 3. 2004 Copyright Klaus Frisch 2001, 2002 |
![]() |
![]() |
![]() |
[Homepage] [Was ist neu?] [Goetheanismus] [Anthroposophie] [Waldorf] [Segregation] [Archiv] [Gedrucktes] [Schad lügt!] [Autor] | ||